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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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dem Automaten zieht.«
    »Ja«, überlegte Michael laut, »ausgerechnet das Stück vom Zettel war bei ihr in der Manteltasche, auf dem die Zeit noch zu sehen war. Es kann allerdings sein, dass es das Konto von jemand anderem ist, oder einer wusste ihre Geheimnummer. Aber wie viele Leute kennen schon die Geheimnummer von jemand anderem?«
    »Wohl nicht viele«, stimmte der Pathologe zu.
    »Was besagen würde«, fügte Michael hinzu, »dass jemand gegen zehn von dort wegging, Geld abhob, zurückkam und ihr den Beleg in die Tasche schob. Leuchtet Ihnen das ein?«
    Die Frage galt Ja’ir, doch der Gerichtsmediziner kam ihm mit seiner Antwort zuvor: »Wie gesagt, das ist nicht mein Gebiet, Gott sei’s gedankt. Ich befasse mich nicht mit Hypothesen, nur mit Fakten. Und das«, er zeigte in Richtung des auf dem Tablett ausgebreiteten Magens, »ist ganz einfach Fakt.«
    »Und es kann nicht später sein? Nach sechs oder sieben?«
    »Vielleicht acht, als letztes Angebot«, erwiderte Dr. Solomon, »garantiert nicht nach zehn.«
    »Also haben wir sie fast vierundzwanzig Stunden danach gefunden?«
    »Sagen Sie Dank. I hr hättet sie auch in zwei Monaten oder überhaupt nie finden können, wenn das mit der Sanierung nicht gewesen wäre.«
    »Jemand hätte sie dann schon gesucht«, sagte Michael.
    »Und wenn?«, hielt Solomon dagegen, »selbst wenn man nach ihr gesucht hätte, wäre man je dorthin gelangt? Unter dieses Ziegeldach? Ich habe gehört, dass dieses Haus schon seit Jahren verkam.«
    »Nein, nicht Jahre, nur Monate, seit es verkauft worden ist«, berichtigte Michael, »aber den Raum direkt unterm Dach hat wirklich schon seit über vierzig Jahren niemand mehr betreten.«
    Wachtmeister Ja’ir, der den beiden nicht zuzuhören schien, trat ein wenig näher an die weit aufgerissene Leiche. »Nichts anrühren«, warnte ihn der Pathologe in einem näselnden Ton, der of fenkundig machte, dass auch er nur durch den Mund atmete. »Ich fasse nichts an«, erwiderte Ja’ir, »ich schaue mir nur diese ganzen Pfützen da drinnen an, schauen Sie, wie viel Blut hier am Grund um die Wirbelsäule herum ist.«
    Michael betrachtete das Blut, das sich am Boden der Bauchhöhle gesammelt hatte, und blinzelte unwillkürlich bei dem Anblick, doch er drehte sein Gesicht nicht weg.
    »Mir ist vorgekommen ...« Ja’ir geriet ins Stocken. »Wie ich die Gebärmutter gesehen habe – das ist die Gebärmutter, nicht wahr?« Er deutete auf das große Tablett mit den inneren Organen, über die der Assistent gebeugt stand, »mir kam es so vor, als ob sie zu groß sei.«
    Dr. Solomon erstarrte für einen Augenblick. »Sehr schön, junger Mann«, bemerkte er dann ohne Begeisterung, »kommen Sie her, Ochajon, treten Sie einen Moment näher, ich habe hier eine Überraschung für Sie.«
    Michael näherte sich dem Tablett.
    »Bevor wir die Lungen zerteilen und den Mageninhalt sezie ren«, sagte Solomon in ernstem, energischem Ton, »gibt es da vor allem eins, das ganz klar ist: Sehen Sie diese Gebärmutter? Wir haben sie vorsichtig geöffnet, nicht durchgeschnitten und keine Querschnitte gemacht, denn sie ist stark vergrößert. Über siebzehn Zentimeter, jetzt ohne zu messen, rein nach Augenmaß. Das ist eine Gebärmutter im Zustand der Schwangerschaft, vielleicht zehn, vielleicht zwölf Wochen. Eine Vergeudung, was für eine Vergeudung.«
    Michael schaute und schwieg. Er entsann sich, dass Solomon und seine Frau kinderlos waren.
    »Ich hab’s gewusst!«, flüsterte Ja’ir. »Ich habe gleich gesehen, dass sie stark vergrößert ist.«
    »Bist du jetzt vielleicht Gynäkologe? Bis du dich übergeben hast, warst du doch noch Jungfrau«, zürnte Solomon.
    »Aber nein, woher denn, ich verstehe überhaupt nichts von Mädchen, aber ich hatte eine Stute ...«
    »Hier ist nicht von Pferden die Rede. Hier haben wir einen Fötus im dritten Monat, dessen Größe neun oder zehn Zentimeter beträgt. Er ist schon faustgroß, sehen Sie, ich hole ihn heraus«, Solomon benutzte die Schere, um die Gewebe voneinander zu trennen. Die Farbe kehrte in Ja’irs Wangen zurück. Auf seinem großen Handteller, auf den Handschuh gebettet, hielt Solomon einen Klumpen aus schleimigen Geweben. »Rein per Augenmaß neun Zentimeter ohne Plazenta«, sagte er zu seinem Assistenten, »wir hatten so etwas schon einmal, wir hatten einen fünften Monat, mit einem richtig entwickelten Embryo, beinahe ein Mensch, erinnern Sie sich?« Michael, dem er den Kopf zuwand te, nickte. »War das nicht die

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