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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Speichelanalyse, aber auch in den Pupillen liegt keinerlei Anzeichen vor, ich weiß nicht ...« Es war mit Sicherheit anzunehmen, dass sich ihre Identität aufklä ren lassen würde, aber dennoch quälte ihn ihre Anonymität immer noch, und noch mehr peinigte ihn seine Furcht vor dem nächsten Stadium, nachdem sie identifiziert worden wäre und sie herauszufinden hätten, wer sie ermordet hatte.
    »Können Sie sagen, ob es einen sexuellen Kontakt gab vor der Ermordung?«, fragte Ja’ir.
    »Nicht ohne Abstrich«, erwiderte Dr. Solomon, »erst nach dem wir den Scheidenabstrich untersucht haben, denn sie ist kein kleines Mädchen mehr. In sehr jungen Jahren oder sehr fortgeschrittenem Alter, wenn es da Spuren gibt, kann man durch bloßes Hinsehen ... aber egal, wir werden es bald wissen. Sicher ist jedenfalls« – man hörte das Lächeln in seiner Stimme hinter der Maske heraus –, »eine Jungfrau war sie nicht mehr, es sei denn, sie wäre eine zweite Maria.«
    Von drei oder vier in einem Raum, dachte Michael, ist immer einer darunter, der die Vulgarität bevorzugt als Schutz vor ... aber wovor musste Solomon sich schützen? Fünf Jahre vor dem Ruhestand empfand er doch längst nichts mehr gegenüber den Leichen, in denen er herumwühlte. Doch was wusste er im Grunde über den Pathologen? Ein paar Informationsbrocken, die er im Laufe der Obduktionen gesammelt hatte, von denen jeder eine Überraschung bereitgehalten hatte: zum Beispiel, dass er als klei nes Kind nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn nach Israel ge bracht worden und in den ersten Jahren in einem Kibbuz aufgewachsen war; oder die Phase vor seinem Medizinstudium, als er sich im orthodoxesten Viertel von Jerusalem, in Mea Schearim, niederließ und versuchte, ein Jeschivastudent zu sein, auch hier die Flucht ergriff und vom Regen in die Traufe kam, wie er es formulierte (dabei hatte er damals auf die Leiche gedeutet, die er sezierte). Auch von seiner langjährigen Ehe wusste Michael: Solomons Frau, eine entfernte Verwandte, älter als er, war vor Jah ren an Parkinson erkrankt. Einmal war Michael bei ihm zu Hause gewesen, hatte sie getroffen und ihr zögernd und vorsich tig die zitternde Hand gedrückt. Vor Jahren, als Solomon geru fen wurde, um eine Leiche am Sederabend zu obduzieren, genau zu der Zeit, zu der alle Welt beim festlichen Sedermahl saß, hatte er zu Michael gesagt: »Wir haben nichts, wir beide, meine Frau und ich, keine Geschwister, keine Onkel und Tanten, gar nichts, wir sind frei wie die Vögel. Wir müssen niemandem Rechenschaft geben, ob wir kommen oder nicht, einladen oder nicht«, und einen Augenblick später begann er plötzlich leise zu summen, langsam der bekannten Melodie der Pessach-Haggada nach: »Ge-ge-genug, ge-nug sind wir uns.«
    Jetzt drückte Wachtmeister Ja’irs Gesicht unverhohlene Neugier aus. Er stand ganz dicht neben ihnen, als die Lungen untersucht wurden, begutachtete jeden einzelnen Schritt und studierte auch die lateinischen Großbuchstaben, die der russische Assistent auf die Deckel der Plastikbehälter schrieb, in die er die Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle gegossen hatte.
    »Wer näht?«, fragte Dr. Solomon. »Wollen Sie?«
    Der Assistent nickte.
    »Dann nähen Sie zu, aber vorher stopfen Sie alles wieder hübsch hinein, vielleicht sollte ich nur ...« Er klappte die Kopf haut wieder zu und nähte sie hinten und über der Stirn zusammen: »Bloß das muss ich selbst machen, damit es auch schön wird.«
    Der Assistent schrumpfte in stummem Protest in sich zusammen.
    »Gut, Sie können jetzt alles wieder hineinlegen«, sagte Dr. Solomon dann, rückte beiseite und schob sich die Maske in die Stirn, wo sie wie ein dürftiges Stirnband haften blieb.
    »Sie haben das Gehirn vergessen«, bemerkte Wachtmeister Ja’ir plötzlich, »Sie haben schon zugenäht, aber es liegt noch ...« Er verstummte mit einem Schlag, als er die Handgriffe des Assistenten verfolgte, der die inneren Organe, darunter auch das Gehirn, eines nach dem anderen in die Bauchhöhle stopfte.
    »Keine Bange«, sagte Dr. Solomon trocken und zog sich die Handschuhe aus, »bei der Wiederauferstehung der Toten wird auch das Gehirn an seinen Platz zurückkehren. Hauptsache, es ist da, und von außen gesehen merkt man nichts. Außerdem gibt es Menschen, die ihr Hirn im Bauch haben. Sie wird tot so gut wie neu sein«, er grinste, »glauben Sie mir, sie ist bereit für den Messias.«
    »Also, was hatten wir alles?« Wider Willen sah sich Michael vom

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