Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Ma’ariv, glaube ich, ich habe ihre Telefonnummer nicht«, sagte sie mit schwacher Stimme, »immer wenn ich sie haben wollte, hat sie gesagt, Zohra« – sie sprach den Namen ihrer Tochter mit ausgedörrter Kehle aus –, »wozu brauchst du die, ich ruf dich schon an.«
»Orli Schoschan«, wiederholte Michael und nickte.
»Ich kenne den Namen«, murmelte Zila und verließ das Zimmer, während sie bereits im Gehen ihr Mobiltelefon in Betrieb setzte. Vom Gang her drang gedämpft ihre Stimme, zielstrebig und energisch bei der Übermittlung an die Abteilung des Nachrichtendienstes. In dem großen Wohnzimmerfenster, durch das der Vorgarten zu sehen war, schaukelte ein fingerförmiges Blatt hin und her und löste sich schließlich von dem mächtigen Feigen baum, an dem es gehangen hatte. Genau der gleiche Baum hatte in Michaels Elternhaus, im Moschav, im Hof gestanden, und in ihren letzten Jahren pflegte seine Mutter in den Stunden zwischen Spätnachmittag und Abend in seinem Schatten zu sitzen, in dem Liegestuhl, den er ihr zu ihrem einundsiebzigsten Geburtstag mit gebracht hatte (»Wann soll ich da drin sitzen? Meinst du, ich hab Zeit, einfach so rumzusitzen? Du verwöhnst mich viel zu sehr«, hatte sie gemurrt, während sie ihn in Empfang nahm, doch ihre Augen hatten geleuchtet). Sie streckte ihre mageren Beine in den dunklen Strümpfen auf den blauen Streifen des Liegestuhls aus, und ihre schmalen roten Handteller legte sie in den Schoß. Dort, auf dem Liegestuhl im Schatten des Feigenbaums, hatte er sie eines Schabbatabends gefunden, ihre Beine entlang der Streifen ausgerichtet, nur ihre Hände waren seitlich herabgeglitten, und ihre Fingerspitzen, leicht bläulich verfärbt, berührten den Boden, als wollte sie das Radieschenbeet erreichen, um dort die Erde aufzu lockern. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, als schlummerte sie, und als er ihr in der sinkenden Dämmerung die Augen schloss, se gelte eine dicke violette Feige vor seine Füße, und er sagte sich: »Das war’s.« Denn inmitten des in ihm aufwallenden Schwächegefühls, angesichts der friedlichen Ruhe, die ihr breites Gesicht mit der dunklen Haut überzog, an deren warme Berührung er sich aus seiner Kindheit erinnerte, vermeinte er für einen Augenblick ihre Stimme zu hören, so wie sie manchmal in diesen Dämmerstunden, halb spottend, halb im Ernst, gemurmelt hatte: »Einer unter seiner Weinrebe und einer unter seiner Feige.«
Er blickte zum Fenster hin, dem Ne’ima Baschari ihren Rücken zuwandte, und seine Augen blieben an den fünf Aufgängen des Wohnblocks auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße hängen. Der glatt weiße, Marmor nachempfundene Verputz, der den grauen Beton verdecken sollte, war eine spätere Zugabe des Baubooms der Fünfzigerjahre, als auf einen Schlag Tausende neuer Einwanderer aus Nordafrika ins Land kamen, darunter auch seine Familie aus Casablanca. Als seine Eltern Israels Küste erreichten – das erzählten sie ihm, als er älter war –, hatte sein Vater den dreijährigen Sohn abgesetzt, sich hingekniet und den Sandboden geküsst. Zwei Jahre darauf starb er. »Dein Vater war ein Zionist. Schon mit der Muttermilch hat er das eingesogen, von seinem Urgroßvater«, sagte seine Mutter einmal zu ihm, kurz bevor sie starb. Sie sprach wenig über ihre ersten Jahre im Land, doch hin und wieder, vor allem wenn sie ihre Umgebung betrachtete und den Stamm des Feigenbaums berührte, der gleich in den ersten Jahren gepflanzt worden war, erinnerte sie sich daran, wie man sie mitten in der Nacht nach Norden transpor tiert hatte, zu einem Ort, dessen Namen sie nie im Leben gehört hatten, eine neue landwirtschaftliche Siedlung, deren Baracken noch nicht alle bevölkert waren. »Nichts gab es dort«, hatte sie bei einer solchen Gelegenheit mit halbem Lächeln gesagt, »nur zwei Eisenbetten mit Matratzen und wir, so wie wir waren, mit sechs Kindern. Mit den eigenen Händen hat dein Vater dieses Haus errichtet, und täglich sagte er, es sei eine gute Tat, das Land aufzubauen. Deswegen hat es ihm noch mehr wehgetan als mir, die Behandlung. Er glaubte nicht, dass Juden sich gegenüber Juden so benehmen können.«
Der weiße Anstrich der grauen Wohnblöcke war offenbar in den letzten Jahren angebracht worden, im Rahmen eines Sanierungsprogramms für die Stadtviertel. Doch weit entfernt davon, die Hässlichkeit zu kaschieren, ließ er sie sogar noch mehr ins Auge stechen.
Im Wohnzimmer der Familie Baschari war der
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