Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
deshalb war sie nicht so ganz bei der Sache, und wir ...«
Als Michael die beiden bat, mit ihm zum gerichtsmedizinischen Institut zu fahren, erbleichte Ezra Baschari. Er lockerte die Krawatte mit seinen mageren Fingern, zog aus der Innentasche seines Jacketts ein winziges Büchlein und begann murmelnd darin zu blättern, nachdem er einen Finger mit der Zunge angefeuchtet hatte. »Ich möchte, dass auch mein Sohn, Natanael, mitkommt«, sagte die Mutter. Michael kam ihrer Bitte nach und wählte zuerst die Nummer bei ihm zu Hause, dann die des Mobiltelefons und schließlich auch noch die seines Zimmers in der Universität.
»Dann haben wir keine andere Wahl«, sagte er zu Ne’ima Baschari, »wir haben’s versucht, aber weder er noch Ihre Schwiegertochter sind zu erreichen.«
Diese beiden Eheleute, die einander in ihrer Magerkeit, kleinen, gebeugten Statur und ihrem erschreckten Blick ähnelten (»Noch nie im Leben waren wir auf der Polizei«, hatte Ne’ima Baschari gesagt, als sie ins Zimmer kam, und es wiederholt, als sie ins Auto ein- und ausgestiegen war), die sich sogar in ihren feinen, miniaturartigen Gesichtszügen glichen, waren die Ursa che dafür, dass er an seine Mutter denken musste. Die beiden ma geren, vorgebeugten Körper, wie sie gehorsam auf jede Frage ant worteten, ihre Gesichter, in denen sich bange Furcht und Ernst widerspiegelten, das uneingeschränkte Vertrauen, das sie dem Dienst habenden Wachtmeister, Michael und sogar Balilati entgegenbrachten, all das erinnerte ihn an seine Mutter, wie sie in den Büros des Gemeinderats saß und demütig auf die Genehmigung wartete, die Terrasse schließen zu dürfen.
Die Fahrt von Jerusalem nach Abu Kabir verlief schweigend. Auf dem Vordersitz waren nur Ezra Bascharis seufzendes Gemurmel zu hören und das schnelle Durchblättern der kleinen Seiten seines Büchleins. Auf der Rückfahrt blätterte er nicht mehr darin.
Als sie nach Jerusalem zurückkehrten und der Polizeiwagen die Straße mit der Wohnung passierte, die Michael gekauft hatte, spähte er verstohlen nach dem Eckhaus, denn er hatte sich noch nicht an die Vorstellung gewöhnt, dass er dort wohnen würde, hinter den Fenstern und verschlossenen Läden im zweiten Geschoss. Seit er sein Elternhaus verlassen hatte, als er mit zwölf Jahren ins Begabteninternat nach Jerusalem geschickt worden war, war nicht ein einziger von den Orten, wo er gewohnt hatte, ein Zuhause gewesen. Sogar in seinem Elternhaus, als er in den ersten Pessachferien dorthin zurückkehrte, atmeten die Wände bereits Entfremdung. Die Eisenfedern seines schmalen Kinderbetts kreischten, als er versuchte, die richtige Lage zum Schlafen darin zu finden. Der Vater von Nira, seiner Exfrau und Mutter ihres einzigen gemeinsamen Sohnes, kaufte ihnen eine Wohnung, die Nira einträchtig mit ihren Eltern zusammen möblierte, und auch dort hatte er sich nie zu Hause gefühlt. Und nachdem er gegangen war (»Du Trottel«, hatte Balilati Jahre später einmal zu ihm gesagt, »du hättest die Hälfte kriegen können, das war auch auf deinen Namen eingetragen«), hatte er nur in Mietwohnun gen gelebt, die er von vornherein immer als Durchgangsstation ansah.
»Hier fängt das Viertel an«, sagte Eli Bachar, als sie die Kreuzung erreichten. Die Bascharis auf den Hintersitzen rührten sich nicht. »Nach rechts erstreckt es sich bis zur Emek Refa’im und zur deutschen Siedlung, und nach links geht es bis zur Bethlehemer Landstraße, die Hauptstraße vom Bak’a.« Wachtmeister Ja’ir kannte die Gegend nicht, und in Eli Bachars Stimme schwang der Ton eines demonstrativ überdrüssigen Taxifahrers mit.
»Hier war ich noch nie«, staunte Wachtmeister Ja’ir, als sie aus dem Auto stiegen und Zila den Bascharis behilflich war, »nur durchgefahren bin ich, aber nicht ... was für Leute wohnen hier?«
»Was soll das heißen, was für Leute?«, fragte Eli Bachar verdutzt.
»Was für Leute, woher sie stammen, schließlich ist diese ganze Stadt in Viertel aufgeteilt, in denen ...«
»Hier gibt es alles«, erwiderte Eli Bachar, »von allem etwas. Marokkaner aus den Fünfzigerjahren, solche, die sie aus dem Lager in Talplot geräumt haben, frag ihn« – er deutete auf Michael, der schon ausgestiegen war –, »es gibt sogar Araber, die nach achtundvierzig geblieben sind, und reiche Franzosen, die nach siebenundsechzig und in den letzten Jahren immigriert sind. Es gibt Kleinhändler vom Markt und Juppies, alles ist hier vertreten. Universitätsprofessoren,
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