Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel
Mitte des Vordergrunds stand – er fragte sich, wie es kam, dass der strahlende weiße Glanz, der den Turms erleuchtete, diese Welt nicht wirklich zu erhellen vermochte, dass die Schatten stärker waren als das Licht und das Schwarz, das aus dem Hintergrund brach, nahe daran waren, das gesamte Bild zu überfluten. Vier Fahnen auf der Spitze des Turmes spielten im Wind, hatten jedoch nichts Fröhliches an sich. Eine sonderbare Atmosphäre; das Empfinden endloser Einsamkeit, unermesslicher Einsamkeit beherrschte das ganze Bild. Wer hatte es wohl gemalt?, fragte er sich. Weshalb bereitete ihm dieses Bild in solchem Maße Unbehagen? Direkt darunter, am Kopfende des Bettes, eingezwängt zwischen der Wand und dem einfachen Holztisch, auf dem die Vase mit den Narzissen sowie einige Teller mit Resten von eingetrocknetem Humus und Pitabroträndern standen, befand sich Natascha, verkrampft zusammengekauert in eine graue Militärwolldecke gewickelt und dennoch zitternd. Michael blickte in das klare Blau ihrer Augen und fand keine Angst darin.
»Sie lässt es praktisch kalt«, sagte Schraiber, »nur am Anfang, wegen dem Schock – da hat sie geschrien. Nachher – als ob gar nichts sei … sie wollte sauber machen und … es hat mich zwei Stunden gekostet, sie zu überreden, die Polizei zu rufen. Ich hab sie das Blut und den ganzen Dreck nicht anrühren lassen, ich wollte, dass Sie das sehen, so wie es … ich hab’s ohnehin fotografiert«, und dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Es war ihre Idee.«
»Was war Nataschas Idee?«, fragte Michael – von draußen war das Stimmengewirr der Spurensicherung zu hören, aus dem sich einen Moment später auch Balilatis Organ erhob –, »zu fotografieren?«
»Nein, fotografieren – das war ich, Sie zu rufen«, erklärte Schraiber und senkte den Kopf, »sie sagte, dass Sie …«
»Schraiber, jetzt hör schon auf«, rief Natascha. Ihre Stimme drang zwischen ihren schmalen Händen hervor, die sie um ihr kleines Gesicht gelegt hatte.
»Was, was hab ich denn schon gesagt? Hast mir nicht vielleicht du gesagt, dass ich ihn rufen soll? Weil er der einzig Ernstzunehmende ist?«, beharrte Schraiber.
»Man sollte nicht beleidigend werden«, murmelte Natascha und blickte zur halb offenen Tür, »es gibt hier noch andere Leute. Alle brauchen ein gutes Wort.«
*
Auch die Frauen der entlassenen Fabrikarbeiter hatten sich Nataschas Debakel im Fernsehen angesehen. Im Wohnzimmer der Familie Schimschi, in einer Kleinstadt nahe der Grenze zum Norden, hörten sie vor dem großen Fernsehapparat, der die gesamte Fläche der glänzenden braunen Kommode einnahm, zuerst ihre erregten Erklärungen – die vor dem Bericht über ihre Ehemänner gebracht wurden – und dann die Dementi und die Entschuldigungen. »Verdorben, alle miteinander, wo man hinschaut – alles Dreck«, murmelte Esti, Rachel Schimschis Schwägerin, und legte die Hände auf ihren stark gewölbten Bauch, und Rachel blickte sie beunruhigt an, als erwartete sie eine Fortsetzung.
»Ich will nicht daneben sitzen«, sagte Esti, »wenn wir gegen sie vorgehen – ich bin dabei.«
»Eine schwangere Frau geht nirgendwohin«, stellte Rachel Schimschi kategorisch fest und kniff ihre Augen zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie zornig wurde, »deswegen rede ich gar nicht mit dir, du besorgst nur die Schlüssel, das ist alles.« Damit stand sie auf und ging in die Küche. Auch Esti erhob sich von dem Sofa vorm Fernseher und betrat die Küche, wo sie sich neben die Anrichte stellte und Rachel anblickte, die mit langsamen Bewegungen die Teegläser spülte.
»Du kannst mich nicht zu Hause lassen, wenn ihr gegen die ganze Welt zieht«, argumentierte sie.
Rachel Schimschi stellte die sauberen Gläser mit der Öffnung nach unten auf ein Geschirrtuch, das sie auf dem Formicatisch ausgebreitet hatte, und sah Esti an. »Spar dir die Worte«, sagte sie leise, »ich lass dich nicht mitkommen, und dabei bleibt’s.«
Zum ersten Mal in all den Jahren, die sie sie kannte, stand Esti ihrer Schwägerin gegenüber, griff mit den Händen hinter sich an die Kante der Anrichte und beugte sich nicht. Ihre schweren Atemzüge waren in der Küche zu hören, als sie sagte: »Du wirst mir nicht sagen, was ich tun soll, ich mache, was ich will.« Und fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, denn es tat ihr auf der Stelle Leid. Sie hatte nicht beabsichtigt, dass sich der Satz so aggressiv anhörte, und vor allem hatte sie Rachel, Maxims große
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