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Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel

Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel

Titel: Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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geschoben, das er gegraben hat, und der Arzt …« Rubin barg wieder sein Gesicht in den Händen und sagte dahinter: »Er … er war …« Dann nahm er die Hände vom Gesicht und blickte Michael an, »er war der Einzige, mit dem ich gesprochen habe, auf Englisch, der Rest hatte kein Gesicht …«
    »Also schoss man ihn in den Rücken? Wer hat geschossen?«
    »Wir konnten nicht von vorne«, sagte Rubin in flehendem Ton, »er hatte ein Gesicht …«
    »Wer hat ihn also erschossen?«, beharrte Michael. »Srul?«
    Rubin senkte den Kopf. »Nein, nicht Srul«, antwortete er nach kurzem Schweigen, »Srul hat niemanden erschossen, keinen Einzigen, außer … außer diesen Gefangenen … die Menschen ohne Gesichter, und auf sie haben wir alle geschossen – und danach, als Srul verbrannte, in der gleichen Nacht, da … er dachte, das sei die Strafe des Himmels für … und deshalb wurde er orthodox und …«
    »Und niemand wusste von dieser Geschichte?«, fasste Michael zusammen. »Nicht einmal Tirza, bis sie sich vor zwei Monaten mit Srul in Los Angeles traf?«
    »Wir haben nie darüber geredet«, erwiderte Rubin. »Benni und ich – kein Wort. Auch nicht mit Srul am Telefon, oder als ich vor fünf Jahren bei ihm war – kein einziges Wort. Bis Srul … er hat es Tirza erzählt. Wegen der Krankheit. Er war krank und wusste, dass seine Tage gezählt waren. Srul hat es ihr erzählt, und als sie aus Amerika zurückkam, sagte sie zu mir: ›Du hast eine Woche Zeit. Wenn du die Geschichte nicht selbst veröffentlichst – dann tue ich es! Im ganzen Staat! Im Fernsehen! In der Presse! Das wird nicht im Sand von Ras Sudar begraben bleiben! ‹«
    Michael blickte ihn lange an, und am Ende sagte er mit einer Stimme voller Erbarmen: »Sie war nicht bereit zu schweigen – also hatten Sie keine Wahl, Sie mussten sie töten.«
    »Ich sagte ihr«, fuhr Rubin fort, als habe er Michaels Worte überhört, »ich habe zu ihr gesagt: ›Tirza, schau dir an, was ich seitdem gemacht habe, seit vierundzwanzig Jahren büße ich, vierundzwanzig Jahre Sühne, willst du mein ganzes Leben zu Staub und Asche machen? Null und nichtig? Es annullieren? Verstehst du nicht, welchen Schaden du so allem, wofür wir gekämpft haben, zufügen wirst? Du machst einen bösen Witz aus uns!‹«
    »Aber sie war nicht bereit zu schweigen«, sagte Michael.
    »Ich kam in die Kulissen, um sie zu überzeugen«, erklärte Rubin, »aber sie … sie war, wie soll man sagen, nun gut, das ist bekannt, sie war dermaßen eigensinnig. Sie war ein reiner Mensch, Tirza. Und sie fing an, mit meiner Mutter zu reden – meine Mutter ist eine Holocaustüberlebende. ›Du hast mit ihnen das gemacht, was man mit deiner Mutter gemacht hat!‹, schrie mich Tirza an, und da habe ich rot gesehen«, stieß Rubin hervor, »ich wollte nicht … ich hatte nicht die Absicht … ich wollte wirklich nicht, dass sie stirbt … es war ein Unfall … etwas Größeres, Stärkeres als ich war hier im Spiel. Ich spreche nicht von Wut oder Angst. Ganz und gar nicht. Aber die große Sache, an die Tirza in ihrer Unschuld und Einfalt mit roher Hand rührte – ›deine Mutter … die Nazis …‹ und dieser Mord von Ras Sudar – all diese Dinge, auf denen wir ein Leben lang, unser ganzes Leben lang, einfach bestehen, erwachsen daraus. Niemand wird das verstehen. Es war größer als ich und als wir alle, auch als wir zehn oder zwanzig waren – etwas, das uns zu Zwergen machte, auch wenn wir dem Anschein nach stark waren …«
    Für einen Augenblick hatte Michael, ganz konkret, Rubins Gedankengang plastisch vor Augen. Erschaudern überrieselte ihn plötzlich, und so wie die Verfremdung in Momenten großer Ekstase ins Bewusstsein zu brechen pflegt, so durchfuhr ihn schlagartig der Gedanke: »Da verstehst du nun schlussendlich im reifen Alter, was Identifikation ist. Identifikation ist ein Augenblick von Identität.«
    »Wir«, hatte Rubin gesagt. Er sah in aller Deutlichkeit den Kreis von Hass und Nichts, der sich zunehmend um ihn schloss, und innerhalb dieses Kreises die kleine Blase von Licht und Wärme, die zwischen ihm und Ochajon entstanden war.
    »Wir, wir – wir waren wir, und wenn man das Wir zerreißt, dann ist das, was auf den Schultern eines jeden Einzelnen lastet, zu groß zum Tragen, in seiner schlichten Bedeutung, zu groß zu tragen. In unserem Wir als Kinder von Eltern, die aus den Konzentrationslagern kamen, und in unserem Wir als junge Männer, die inmitten der Wüste am Sinai vor hilflosen

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