October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Zerreißprobe als weitgehend nutzlos erwiesen, aber sobald sie ihren kleinen Bruder handhaben sollte, war sie ein Ausbund an Effizienz. Das würde ich mir merken müssen – für den Fall, dass uns wieder mal ein Möchtegern-Gott entführte.
Raj lehnte sich an die Sitzlehne und sah zu, wie Jessica ihr Brüderchen aus dem Wagen nach draußen bugsierte. »Bringt ihr als Nächstes uns nach Hause?«
»Ja, das machen wir«, sagte ich.
»Meine Eltern werden froh sein.«
»Da bin ich sicher.« Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und hielt inne, als mir bewusst wurde, dass meine Tarnung nicht aktiviert war. Zwar war ich ziemlich sicher, dass uns bislang niemand gesehen hatte – das bewies schon der Umstand, dass Mitch und Stacy noch nicht aus dem Haus gestürzt kamen. Aber nun hatte ich ein neues, viel simpleres Problem: Wie konnte ich sicherstellen, dass sie mich möglichst überhaupt nicht zu Gesicht bekamen?
Mit meiner plötzlichen zweiten Jugend würde Stacy vielleicht noch klarkommen, vor allem, wenn ich ihr ihre Kinder zurückbrachte – sie kann noch bei den heikelsten Angelegenheiten unglaublich pragmatisch sein. Aber ich glaubte nicht, dass ich ihr May zumuten konnte. Wie Connor wusste sie ganz genau, dass ich keine Schwestern habe. Anders als bei Connor hatte ich jedoch starke Zweifel, dass sie zusätzlich zu allem anderen, was geschehen war, die Nachricht von meinem bevorstehenden Tod verkraften konnte.
Und dann war da noch die Sache mit Karen. Ich hatte ihren Geist gesehen. Ich wusste nach wie vor nicht, wie sie … wie … nein. Nicht noch mehr Trauma, jedenfalls nicht jetzt. Ich bin ein Kind Faeries. Wenn nichts anderes mehr geht, suchen wir Zuflucht in Lügen. Das mag nicht gerade die ehrbarste Philosophie sein, aber mir persönlich hat Alltagsverstand schon immer mehr bedeutet als ein abstrakter Ehrbegriff. Und mein Alltagsverstand sagte mir klar und deutlich, dass es keine gute Idee war, Stacy meinen Holing vorzustellen, nachdem sowieso schon ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war.
»Ich bleibe im Wagen«, verkündete ich. Durch die offene Fahrertür sah ich May an. »Du weißt, warum, oder?«
»Ich glaube schon«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Ich sollte das nicht tun.«
»Ich weiß.«
»Fair ist das nicht. Meinst du nicht, Stacy würde es wissen wollen?«
»Dass ich sterben muss? Inwiefern soll das hilfreich sein, May? Sie kann es doch nicht ändern.« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast mein Gedächtnis. Das heißt, du liebst sie auch.«
»Das stimmt, und du hast ja auch irgendwie recht, aber … « Sie seufzte. »Ich bin so gut wie sicher, dass das gegen die Regeln verstößt. Ich sollte dir gar nicht helfen.«
»Warum nicht?«
»Ich bin dein Holing.«
Ich zuckte die Achseln. »Na und?«
Sie nickte langsam. »Also gut, aber nur Stacy zuliebe, und dies ist das letzte Mal. Keine Hilfestellungen mehr.«
»Ich verstehe.«
May schnipste erneut mit den Fingern. Ihre Kleidung begann zu schimmern und wurde zu Jeans, einem Baumwollhemd mit Knopfleiste und der alten Lederjacke von Tybalt, die ich immer trug – ein typisches Ich-Outfit. Sie schüttelte die Jacke zurecht und rief: »Andy, Jessie, kommt jetzt. Es ist Zeit.«
Jessica hatte es fertiggebracht, Andrew aus dem Wagen zu hieven. Jetzt stand sie neben ihm auf dem Gehweg, Andrew hatte wieder seinen Daumen im Mund. Sie wandte sich Mays Stimme zu, dann zögerte sie. Ihr Blick schoss zwischen May und mir hin und her. »Tante Birdie?«, fragte sie argwöhnisch.
Andrew war nicht so leicht zu verunsichern. Er kam gemächlich herüber an die offene Beifahrertür, beugte sich vor und packte den Saum meines Pullovers, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen.
Ich sah ihn an, dann seine Schwester. Ich konnte sie nicht belügen, vor allem, weil ich wusste, dass sie es mir hundertprozentig nicht abkaufen würden. »Ich will eure Mama jetzt nicht mehr aufregen als unbedingt nötig«, sagte ich. »Also lassen wir mal für eine kleine Weile May als ich auftreten, in Ordnung?«
May lächelte die beiden an und winkte fast schüchtern mit den Fingern einer Hand.
Jessica beäugte sie skeptisch und wandte sich dann an mich. »Sie ist nicht du.«
»Ich weiß das, und ihr wisst es auch, aber wir könnten doch mal so tun, oder?«
»Also … «, setzte sie an.
Andrew nahm den Daumen aus dem Mund. »Okay.« Er ließ meinen Pulli los, stapfte rüber und ergriff Mays Hand. Jessica sah zu, Panik im Blick. Als sie sich wieder zu mir umdrehte,
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