October Daye: Nachtmahr (German Edition)
»Warum?«
»Weil du, liebe October, die schlimmste passive Selbstmörderin bist, die ich je getroffen habe, und das will etwas heißen. Du würdest dir nie die Pulsadern aufschlitzen, aber du bist jederzeit bereit, dich Kopf voran in die Hölle zu stürzen. Du hast immer gute Gründe. Du hast sogar exzellente Gründe. Und ein Teil von dir betet immer darum, nie mehr zurückzukehren.«
Ihre Worte trafen mich ins Mark. »Das ist nicht wahr«, protestierte ich schwach.
»Nicht?« Sie stand auf, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. »Faeries Kinder leben ewig. Menschen tun das nicht, aber sie wissen, dass sie sterben müssen, es liegt ihnen im Blut. Dein Blut aber kennt seinen Weg nicht, und ich glaube, du versuchst ihn auf eigene Faust zu finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, du warst ja noch nie sonderlich helle.«
»Was hat das mit May und Connor zu tun?«
»Mit Connor? Gar nichts. Er war bloß im Weg.« Sie sah mich wieder an. »May hingegen ist so ziemlich der Kern des Problems. Sie ist da, folglich denkst du, dass du endlich kriegst, was du ersehnst. Du denkst, du darfst sterben. Tja, weißt du was? Das darfst du nicht. Wir lassen dich nämlich nicht.«
»Lasst mich nicht was?«
»Sterben.«
»Das ist doch Schwachsinn.«
»Ach ja?« Sie wandte sich ab und ging in die Küche. Ich hievte mich von der Couch hoch und folgte ihr. Ich steckte immer noch in dem violettroten Gewand, und mein Messer hing im Gürtel. Na, wenigstens war ich nicht unbewaffnet.
Die Luidaeg stopfte mit Verve ungespültes Geschirr in einen Schrank, als ich hereinkam, und der knirschende Klang brechenden Porzellans setzte Akzente über das wütende Geschepper. Sie hielt inne, als sie meine Schritte hörte, drehte sich aber nicht um. »Du gehst zurück, nicht wahr?«
»Katie ist immer noch ein Pferd. Kannst du sie heilen?«
»Nicht, solange mein Bruder sie festhält. Er lässt nicht einfach los, nur weil du sie ihm geklaut hast.«
»Und Karen – Karen! Sie ist noch bei Lily. Ich muss sie holen.«
»Nein, musst du nicht. Sie ist im Schlafzimmer.«
Ich stutzte. »Sie ist hier? «
»Sagte ich doch gerade. Das arme Kind muss total erschöpft sein. Sie schläft schon, seit ihr hier ankamt.«
»Luidaeg, sie schläft schon, seit Blind Michael da war.«
Sie ließ den Teller fallen, den sie in der Hand hatte, wirbelte herum und starrte mich an. »Was?«
»Sie wacht einfach nicht auf.«
»Oh, Scheiße . Also hat Lily sich nicht nur so unklar ausgedrückt, um mich auf die Palme zu bringen?« Sie marschierte hinaus in den Flur. Ich folgte ihr. Seit ich die Luidaeg kannte, hatte ich vieles gesehen, und manches davon war sogar ein erfreulicher Anblick. Aber ihr Schlafzimmer hatte ich nie zu Gesicht bekommen, und angesichts der Verhältnisse im »öffentlichen« Teil ihrer Wohnung war ich auch nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Doch wenn Karen dort war, musste ich hin. Ich setzte meine Füße genau an die Stellen, wo die der Luidaeg auftrafen, als wir den Flur entlanggingen. Sie musste schließlich wissen, wohin man hier ungefährdet treten konnte. Vor der einen Tür, die immer geschlossen war, blieb sie stehen, seufzte und stieß sie auf. »Nach dir.«
Ich zögerte nur eine Sekunde, dann trat ich ein.
Das Zimmer war dunkel, angefüllt mit Schatten, die zu umtriebig waren, um natürlichen Ursprungs zu sein. Hinter mir sagte die Luidaeg »Augen zu!« und schnipste mit den Fingern, ehe ich noch reagieren konnte. Unmengen von Kerzen, die ringsum auf jeder verfügbaren Oberfläche standen, entflammten sich, loderten auf und fluteten den Raum mit Helligkeit.
Als die Blendflecken auf meiner Netzhaut verblassten, blinzelte ich und sah mich erneut um. Die Kerzen erfüllten das Zimmer mit einem behäbigen, zähflüssigen Lichtschein, der sich in sechs riesigen Aquarien brach. Die gläsernen Fischbecken säumten die ganze eine Wand und warfen Wellenspiegelungen an die Decke und auf den polierten Hartholzboden. Seltsame Fische schwammen darin, Ungeheuer der Tiefsee mit giftigen Stacheln und rasiermesserscharfen Rückenflossen. Ein perlenäugiger Meerdrache, so lang wie mein Arm, kam an die Scheibe geschwommen und starrte mich ungnädig an. Die Luft roch stark nach Meerwasser und Salzsud.
Ein altertümliches Himmelbett nahm einen Großteil der Wand auf der Türseite ein. Der reich verzierte geschnitzte Rahmen zeigte Wellenmuster und Meerespflanzen und stilisierte Seejungfrauen, die schweren schwarzen Samtvorhänge waren
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