October Daye: Nachtmahr (German Edition)
verwirrend.
»Wir müssen vor allem schnell sein.«
»Das heißt doch nicht, dass ich getragen werden muss!«
»Nicht? Würdest du lieber laufen?«
Ich besann mich. Schattenhügel war von Oakland eine halbe Autostunde entfernt, und soweit ich wusste, fuhr Tybalt nicht Auto. Folglich hatte er vor, uns auf anderem Wege hinzubringen. Selbst unverletzt machten Tybalts Wege mir in der Regel schwer zu schaffen. Verwundet und erschöpft hingegen, nun …
Richtig. »Na schön. Also auf nach Schattenhügel.«
»Braves Mädchen«, sagte er und packte mich noch fester. »Mach die Augen zu, halt deine Kerze gut fest und hol so tief Luft, wie du nur kannst. Diesmal wird’s etwas länger dauern.«
»Was heißt ›etwas länger‹?«
Er lächelte breit. »Vertrau mir einfach.«
Darauf gab es nichts Kluges zu sagen, also nickte ich bloß.
»Augen zu«, sagte er, und ich schloss sie und umklammerte meine Kerze. Es war jetzt an Tybalt, mich nicht fallen zu lassen, und an mir, die Kerze nicht fallen zu lassen. Ich spürte, wie er Anlauf nahm und dann losstürmte, scheinbar direkt auf die solide Hauswand vor uns zu.
Wir prallten nicht gegen Stein. Die Welt wurde kalt ringsumher, und mein ganzes Dasein reduzierte sich auf den Kranz aus Tybalts Armen und das heiße Wachs, das auf meine Hände tropfte. Ich hielt die Augen krampfhaft geschlossen und den Atem an, bis es mich schüttelte und würgte. Glühende Punkte tanzten hinter meinen Lidern. Ich konnte unmöglich noch länger die Luft anhalten. Wie lange sollte ich denn seiner Meinung nach ohne Sauerstoff auskommen? Andererseits war er es, der das Rennen besorgen musste. Wie lange konnte er das durchhalten, ehe er stolperte und fiel?
Gewaltsam zwang ich mich, nicht zu atmen, kuschelte mich tiefer in seine Arme und bemühte mich, dem Rhythmus seiner Bewegung zu folgen, um mich ruhig zu halten. Es klappte nicht. Es gab nur noch Finsternis und Eiseskälte, und Frost knirschte in meinen Haaren. Eisspuren krochen meine Lippen und Wangen entlang. Und Tybalt rannte immer noch.
Die Dunkelheit wollte nicht enden, das hier war schlimmer als Dummheit, es war Selbstmord. Selbst wenn ich wollte, konnte ich nicht länger den Atem anhalten. Mit einem gewaltigen Ächzen ließ ich die Luft aus meinen Lungen entweichen, dann musste ich einatmen –
– und wir stürzten hinaus ins Licht. Ich kam nicht mehr dazu, mich abzufangen, als Tybalt strauchelte und lang hinschlug. Hart prallte ich auf den Boden und rollte ein paar Meter nach rechts, ehe ich die Augen aufschlug.
Das Glimmen zahlloser Glühwürmchenflügel erfüllte die Welt, halb verdrängt vom helleren Schein winziger Laternen. Offenbar hatten sich in den Bäumen über uns gleich mehrere Schwärme Pixies versammelt, und sie alle schwirrten in einem ausgeklügelten Muster in wirbelndem Tanz durch die Luft. Ich blinzelte erstaunt, dann grinste ich, als mir klar wurde, was sie da trieben. Der Tag des Umzugs rückte näher, und sie trafen ihre Vorbereitungen und feierten. Am Abend vor Allerheiligen brachen dann alle Glühwürmchen ihre Zelte ab, flogen gemeinsam los und suchten sich für die dunklen Wintermonate ein neues Zuhause. Der Tag des Umzug ist immer ein zauberhafter Anblick. Meine Mutter brachte mich früher extra in die Welt der Sterblichen, damit ich dabei zusehen konnte.
Ich blieb auf dem Rücken liegen und schaute dem Tanz der Pixies zu, bis ich wieder normal atmen konnte. Als meine Lungen nicht mehr krampften, richtete ich mich auf und wandte mich lächelnd zu Tybalt um. »Hey, Tybalt, bestimmt hast du schon … Tybalt?«
Er rührte sich nicht. Ich krabbelte zu ihm hinüber, die Kerze in der Hand, und rüttelte an seiner Schulter. »Tybalt?« Keine Reaktion. Ich rüttelte heftiger und fasste dann nach seinem Handgelenk, tastete nach dem Puls.
Es gab keinen.
Er atmete nicht mehr.
Kapitel 25
T ybalt! Verdammt, Tybalt, wach auf!« Ich ließ die Kerze fallen, packte seine Schultern mit beiden Händen und schüttelte wild. »Du kannst nicht sterben! Ich lasse dich nicht!«
Das schmelzende Eis in meinen Haaren rann in kalten Spuren über mein Gesicht, aber das scherte mich nicht, denn Tybalt atmete nicht. Mein einer Ellbogen war bei dem Sturz aufgeschürft und blutete, aber auch das scherte mich nicht, denn Tybalt atmete nicht. Ich schüttelte ihn erneut. »Tybalt, nein. Du kannst doch nicht … «
Kannst was nicht? Sterben? Wieso nicht? Wer sollte ihn daran hindern? Oder ging es eher um weg sein und mich hier allein
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