October Daye: Nachtmahr (German Edition)
ertragen. Mir blieb sowieso keine andere Wahl. »Ich kann nicht den Kinderpfad nehmen. Du warst bereit, mich sterben zu lassen, Luna. Dafür schuldest du mir was.«
»Aha«, sagte sie leise. In ihren Augen begannen sich feine gelbe Streifen zu bilden, die das Braun verdrängten. »Ich hätte wissen müssen, dass es dazu kommt. Wir ernten, was wir gesät haben, ganz gleich, wie viele Jahre die Frucht zum Reifen braucht.« Ein bitteres Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Du solltest besser lebendig wiederkommen, October Daye, sonst wird mir mein Mann das niemals verzeihen. Ich wollte nie wie meine Mutter werden.«
»Luna, was – «
»Sie hat dich auf den Rosenpfad geschickt, und es ist nun an mir, dich wieder auf den Weg zu bringen. Doch du wirst nicht auf diesem Weg wiederkommen. Deine Rückkehr erfordert einen anderen Weg.« Ihre Augen waren jetzt fast völlig gelb, und in ihrem Haar schimmerten rosa Strähnen auf. »Es tut mir leid, dass ich gelogen habe. Das wollte ich nie. Aber ich konnte nicht zulassen, dass mein Vater mich aufspürt. Dies ist das zweite Mal, dass die Reiter gekommen sind, seit ich aus seinen Hallen floh, und ich habe seinerzeit keins der Kinder beschützt, die er sich aneignete. Diese Mahd wird alldem ein Ende bereiten. Hat sie dir gesagt, dass es ein Zeitlimit gibt?«
Überrumpelt von dem plötzlichen Themenwechsel blinzelte ich. »Vierundzwanzig Stunden. Ich muss rein und wieder raus, ehe die Kerze niedergebrannt ist, oder ich schaffe es nie mehr nach Hause.«
»Ganz genau.« Sie hielt mir die Hand hin. »Komm, Liebes. Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Jetzt nicht mehr.« Jedes Mal, wenn ich den Blick von ihr nahm, verwandelte sie sich ein bisschen mehr. Stück um Stück wurde sie wieder zu der Frau, die sie gewesen war, als sie Acacias Rose entgegennahm. »Vielleicht noch nie.« Mit diesen Worten ergriff sie meine Hand und führte mich aus dem Kindersaal.
Wir wanderten durch Korridore und Gärten, Schlafzimmer, Küchen und Bibliotheken, bis die Räume verschwammen und ineinander übergingen. Ein Saal mit einer Ahnengalerie, ein Saal voller eingestaubter Möbel, ein Küchengarten, eine Bibliothek mit Büchern, die flüsterten, als wir vorbeikamen. Wir wanderten, bis sich alles um mich drehte, blieben nie stehen, sahen nie zurück. Und dann tauchte vor uns eine vertraute Tür auf, ganz aus unbehandeltem Holz, mit einer Rauchglasrose dort, wo sonst der Spion sitzt. Luna sah mich an, die fremdartigen Augen schmerzerfüllt, und ließ meine Hand los, als sie die Tür öffnete.
Licht durchflutete den Glasrosengarten. Es ergoss sich von den Fenstern, strömte durch die halb durchsichtigen Rosen und verstreute sich zu zahllosen winzigen Regenbögen und Prismen, die auf den Kiespfaden und an den grauen Steinmauern schimmerten. Luna ging voraus und ließ ihre Fingerspitzen an den unnachgiebigen gläsernen Blütenblättern entlangstreifen, sodass sich ein Ornament aus frischem Blut hinter ihr herzog. Ich folgte ihr langsam und weigerte mich entschieden, dem zu lauschen, was ihr Blut mir zuzuflüstern versuchte. Es war viel zu verändert und verwirrt, um etwas von Wert zu enthalten.
In der entferntesten Ecke des Gartens blieb Luna endlich stehen, vor einem Strauch voller Blüten, deren Blutrot in Schwarz überging. Ihre Stiele waren übersät mit Dornen, so lang und spitz, dass sie wie tödliche Waffen aussahen. »Rosen sind immer grausam«, sagte sie fast sehnsüchtig. »Das macht sie erst zu Rosen.« Sie griff in den Strauch und zuckte mit keiner Wimper, als die Dornen ihre Haut zerstachen.
»Worüber sprichst du eigentlich?«
Ihre Miene war ganz friedlich. »Natürlich über Schönheit und Grausamkeit. Es ist ganz einfach.« Aus dem Strauch drang leise der Klang von etwas Brechendem. Als sie ihre Hand herauszog, hielt sie darin eine perfekte schwarze Rosenknospe. »Die Pfade der Rosen sind auch nicht entgegenkommender als die anderen Pfade, aber die Leute glauben das immer, weil sie so schön sind. Schönheit lügt.« Sie küsste die Blüte, ganz beiläufig, ungeachtet der Tatsache, dass die scharfen Blütenblätter ihr sofort die Lippen zerschnitten. Blut begann zu strömen.
Und die Rose begann sich zu öffnen.
Die Blütenblätter entrollten sich langsam und schnitten dabei tief in Lunas Lippen und Finger, bis die Luft gesättigt war vom Geruch ihres Blutes. Luna lächelte und hielt mir dann die Rose hin. »Hier. Stich dich mit den Dornen in den Finger, und schon bist du auf dem Weg. Nimm
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