October Daye: Nachtmahr (German Edition)
spöttische Verbeugung. »Bei meiner Mutter Blut und meines Vaters Gebein, ich verspreche es«, rief er mit einem Singsang-Ton, dessen Echo widerhallte und widerhallte, bis es die ganze Welt ausfüllte.
Ich erschauerte heftig und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Doch das war aussichtslos und viel, viel zu spät. Ich hatte meine Chance drangegeben, und nun würde ich mit den Konsequenzen leben müssen.
»Bei Eiche und Esche, bei Beere und Dorn, ich verspreche es. Bei Wurzel und Zweig, bei Rose und Baum, bei Blüten, Blut und Wasser, ich verspreche dir dies: Deine schlafende Prinzessin und ihre Geschwister sollen frei von meinen Landen schreiten, und ich will sie nie wieder berühren. Meine Jagd wird sie nicht hetzen, meine Jäger sie nicht fangen. Du hast mein Wort.«
Seine Worte waren Asche und Staub, ich atmete ihre Macht und spürte, wie ich kalt wurde. Die Kinder brachen in Jubel aus. Er hatte es vollbracht. Das Versprechen war gegeben, und nicht einmal Blind Michael konnte diesem Schwur entkommen. Karen würde frei sein, und ich würde bleiben. Es blieb Quentin und den anderen überlassen, Katie zu befreien. Das war nicht länger meine Aufgabe. Meine Aufgabe war erledigt.
Ich schaute in sein Gesicht und erblickte das Ende der Welt. »Du bist dran«, sagte er.
»Ich … « Es gab nichts, was ich sagen konnte. Wohl oder übel, ich hatte mein Wort gegeben. Du kommst hin und zurück bei der Kerze Licht , hatte die Luidaeg gesagt, und so war es auch: Ihr Licht brachte mich in Blind Michaels Lande und schützte mich dort, so gut es möglich war. Sie war mein Nachhauseweg, und solange ich sie trug, galt mein Versprechen nicht. Solange ich sie nicht losließ, gab es noch eine Chance.
Wortlos öffnete ich meine Finger und ließ die Kerze fallen.
Die ganze Jagd sah zu, und Blind Michael sah durch ihre Augen. Als sie zu Boden fiel und die Flamme schließlich ausging, lächelte er. Gewonnen, verflucht sollte er sein. Der Sieg war sein. Ich stand so hoch aufgerichtet, wie ich konnte, und unterdrückte die Tränen. Die Lande waren schon nicht gerade einladend gewesen, als ich noch unter dem Schutz der Luidaeg stand. Doch jetzt, ohne meine Kerze, waren sie das nackte Grauen.
Gedämpft wurde mir bewusst, dass ich mich nach meiner Mutter sehnte.
»Ich bleibe«, sagte ich.
»Ja«, sagte Blind Michael, »und ob.« Etwas traf mich in die Kniekehlen, und ich ging zu Boden. Ich versuchte den Kopf zu heben, doch die Welt hatte sich verfinstert und war erfüllt vom eisigen Flüstern der verlorenen Kinder. Eiche und Esche, was hatte ich getan?
»Hier kommt das Lichtlein, zu Bett führt’s dich treu«, sangen sie. Ich fühlte, wie sie mich umringten und immer näher rückten, aber ich konnte meinen Körper einfach nicht dazu bringen, sich von der Stelle zu rühren.
Luidaeg, verzeih mir , dachte ich verzweifelt.
»Hier kommt das Beilchen und haut dich entzwei«, dröhnte Blind Michael. »Schnappt sie euch.«
Etwas Schweres traf mich am Schädel, und die Welt zerfiel.
Kapitel 27
D ie Welt bestand aus Nebelschwaden und Fetzen von Liedern. Ich summte mit, und wo ich die Reime kannte, sang ich sie auch. Sonst gab es nichts: nur die Musik, den Nebel und mich. Manchmal gingen Leute an mir vorbei, ohne zu sprechen, aber das war gleichgültig. Alles war gleichgültig, solange die Musik da war, um mich warm zu halten. Es hatte einst eine Zeit gegeben, als die Welt noch aus mehr bestanden hatte als Nebel und halb erinnerten Liedern, aber diese Zeit war unendlich lange her und weit weg, diese Zeit war vorbei. Es schmerzte, wenn ich mich daran zu erinnern versuchte, und so hörte ich auf, es zu versuchen. Ich saß einfach nur in der Finsternis und wartete. Worauf ich wartete, wusste ich nicht genau.
Es gab jedoch Hoffnung, selbst in der nebligen Dunkelheit. Denn wenn ich großes Glück hatte und sehr brav war, würde Er vielleicht kommen. Er war so groß wie der Himmel und leuchtete hell wie der Mond. Wo Er ging, teilten sich die Nebel, und ich sah die Ebene, die sich unter dem dämmrigen Himmel bis in die Unendlichkeit erstreckte. Für Ihn würde ich alles tun. Für Ihn würde ich sterben. Ich glaube, einmal sagte ich Ihm das. Ich erinnere mich an Seine Hand auf meinem Haar und an Seine Stimme, so tief und weit wie der Ozean, und Er sprach zu mir: »Du bist beinahe bereit.« Danach weinte ich lange. Ich wusste nicht, warum. Es hatte irgendetwas mit Versprechen zu tun.
Zeit verging. Ich weiß nicht, wie viel, und es war mir
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