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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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glattem Stein. Der einzige Weg hinein war der offensichtliche – die kaputte Wand war nur gut drei Meter hoch, und es gab keinerlei Barrikaden. Der Aufstieg sah nicht allzu schlimm aus. Das konnte ich schaffen.
    An der einen Mauer stand ein altes Wasserfass. Ich stieg darauf, klemmte mir die Kerze zwischen die Zähne und achtete darauf, nicht zu fest zuzubeißen, dann tastete ich die Mauer nach Haltemöglichkeiten ab. Es gab eine deutliche Route, eine Reihe von kleinen Einkerbungen, die an der Wand hochführten. Einleuchtend. Kinder finden immer einen Weg nach draußen, doch in Blind Michaels Landen hieß das nicht, dass sie entkommen konnten. Sie brauchten also auch einen Weg, der wieder hineinführte.
    Die Kletterei ging langsam und war schmerzhaft und mit das Strapaziöseste, was meine Nerven bislang mitgemacht hatten. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, falls mich jemand entdeckte, ehe ich es die Wand hoch geschafft hatte. Wenn ich geschnappt wurde, war ich so gut wie tot. Die Wunden an meiner Hand brannten, wo der Stein sie berührte, meine Knie schmerzten von der Anstrengung, der Schwerkraft zu widerstehen, und heißes Wachs kleckerte über meine Wangen und auf meinen Hals, wann immer ich mich bewegte. Aber ich schaffte es. Ich erreichte die Bruchkante der Mauer, meine Kerze brannte immer noch gleichmäßig blau, und niemand schlug Alarm.
    Unter mir breitete sich der Kindersaal aus wie ein regloses Flickwerk aus Stille und Schatten. Die Kinder waren weg, vermutlich suchten sie immer noch in der »wirklichen« Welt nach mir. Ein gutes Zeichen. Etwa einen Meter zu meiner Linken hing ein alter Wandteppich an rostigen Metallschlaufen von der Wand herab. Er sah so verrottet aus wie alles in Blind Michaels Königreich, aber er mochte genügen. Ich schob mich auf der Mauerkante nach links und packte den Wandbehang, um mich vorsichtig daran herabzulassen.
    Der verrottete Stoff vereitelte diesen Plan. Er riss, und ich fiel. Hastig griff ich nach einem weniger zerfetzten Stück. Diesmal hatte ich mehr Glück. Der Wandbehang spannte sich, aber er riss nicht. Ich prallte hart genug gegen die Wand, dass es mir die Luft aus den Lungen drosch und ich beinahe meine Kerze durchbiss. Für einen Moment hing ich nur da und atmete hastig durch die Nase. Als ich sicher war, nicht zu fallen, machte ich mich an den Abstieg.
    Etwa einen Meter über dem Boden endete der Wandteppich. Ich ließ los und landete hart, aber aufrecht. Ich hatte es geschafft, ich war in der Halle und die Kinder nicht, auch wenn ich nicht darauf bauen konnte, dass das so blieb. Es galt in Bewegung zu bleiben.
    Auf dem Boden lagen verstreut einzelne »Spielzeuge« herum. Stöckchen, Steine, ein paar Knochen, die ich mir nicht näher ansehen mochte, ein Teddy ohne Kopf und ein Puppenkopf ohne Körper, Holzbruchstücke und Kunststoffscherben. Nichts davon sah aus, als würde es viel benutzt, außer vielleicht als Waffe. Ich suchte, bis meine Kerze noch kürzer geworden war, und fand nichts als Müll. »Verdammt, wo ist sie?«, flüsterte ich erbittert. Die Finsternis gab keine Antwort. Wo immer sie steckte, es war nicht hier, und ich musste mich beeilen.
    Der Wandteppich, den ich zum Abseilen benutzt hatte, sah aus, als würde er mich nochmals tragen. Ich nahm die Kerze wieder zwischen die Zähne, packte eine Ecke und kletterte los. Es dauerte nicht so lange wie beim ersten Mal, Angst und Frustration machten mich schneller. Oben wuchtete ich mich über die Mauer, zog den Wandbehang mit hoch und ließ ihn an der Außenseite des Gebäudes herab. Das war zwar ein Beweis, dass ich hier gewesen war, aber mir nicht den Hals zu brechen schien mir jetzt wichtiger.
    Der Wandteppich gab eine prima Leiter ab. Ich ließ mich daran herunter und landete geräuschlos auf dem Wasserfass. Schritt eins lag hinter mir – der leichtere – , nun blieb nur noch einer.
    Natürlich hatte ich mir das Schwerste bis zum Schluss aufgehoben.
    Die Nacht wurde kälter. Ich robbte mich von Gebäude zu Gebäude und verharrte vor dem einzigen Bau, von dem ich sicher wusste, was er enthielt: dem Stall. Die Schreie, die beim vorigen Mal rings um ihn zu hören waren, waren nun verstummt, ersetzt durch Schnauben und leises Wiehern. Die Kinder, die wir nicht gerettet hatten, waren inzwischen keine Kinder mehr. Ich schauderte, als ich hineinschlich und mich hinter einem Heuballen verbarg. Es war nicht anzunehmen, dass mich hier jemand suchte. Welcher Schwachkopf sollte sich denn ausgerechnet in einem

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