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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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auch egal, Zeit hatte keinen wirklichen Sinn. Alles, was zählte, war der Nebel, und die Hoffnung, dass Er bald wiederkam.
    Als die Nebel sich so weit lichteten, dass ich mich erinnerte, einen Körper zu haben, merkte ich, wie irgendjemand mir Kleidung anlegte. Etwas stand bevor, etwas so Wichtiges wie der Mond, den ich mich erinnerte gesehen zu haben, an einem … einem anderen Himmel. Der Gedanke schmerzte, also schob ich ihn beiseite. Etwas Wichtiges stand bevor, und das bedeutete, dass Er da sein würde. Alles würde gut sein, solange Er da war. Ich lächelte und ließ zu, dass ungesehene Hände mir Stiefel an die Füße zogen. Das kam mir nicht angemessen vor, also sang ich: »Reit ein keck Pferdchen nach Banbury Cross, sieh dort die Lady hoch auf ihrem Ross … «
    »Ja, ja, schon gut«, sagte jemand und fuhr mir durch die Haare, strich sie nach hinten und band sie dort fest. Die Stimme kam mir beinahe vertraut vor, so wie die Gesichter, die ich manchmal im Schlaf vor mir sah, mir beinahe vertraut erschienen. »Es ist bald so weit. Ich bringe dich hier raus. Sei unbesorgt.«
    »… an den Zehen trägt sie Glöckchen, im Gesicht ist sie blass«, sang ich und schloss die Augen. Es schmerzte, zu lange in den Nebel zu schauen. Er drohte sich aufzulösen, wenn ich es tat, und dann schimmerte eine Welt durch, die nicht ganz richtig war. Sie war nicht so, wie die Welt sein sollte, sie machte, dass ich schreien und beißen wollte. Es hatte irgendetwas mit Kindern und Kerzen zu tun.
    »Wie viele Meilen nach Babylon?«, murmelte ich. »Drei Dutzend und noch zehn.«
    »Pssst«, machte die Stimme. »Du musst jetzt still sein. Keine Lieder mehr. Keine Reime.«
    »Komm ich dorthin bei Kerzenlicht?« Was redete sie da? Reime und der Nebel waren doch alles, was ich hatte.
    »Schluss jetzt!« Sie schlug mir ins Gesicht. Ich erstarrte. Manchmal schlug Er mich, wenn ich Lieder sang, die Er nicht mochte. Ich wusste nie, welche Lieder Ihn dazu brachten, mich zu schlagen, bis sie schon gesungen waren und es zu spät war, sie zurückzunehmen. Einmal, als ich ein Lied sang, das von einer Frau namens Janet handelte und dem weißen Pferd, das ihr Liebster ritt, da fing Er an mich zu schlagen und hörte fast nicht mehr auf. Danach blutete ich stundenlang in den Nebel, und das Blut an meinen Fingern leuchtete wie Rubine.
    Ich mochte es nicht, wenn Er mich schlug. Es schmerzte. Und doch verwirrte es mich auch, denn sosehr ich es verabscheute, wollte ich doch nicht, dass Er aufhörte. Wenn Er mich schlug, klärten sich die Nebel so weit, dass ich eine Vorstellung von Dingen außerhalb meiner Welt bekam, komplexeren Dingen als Nebel und halb erinnerten Liedern. Also wand ich mich unter den Schlägen und versuchte mir zu merken, was sie ausgelöst hatte, damit ich Ihn wieder dazu bringen konnte, wann immer ich es wollte. Immer, wenn ich bereit war, mit Schmerz für Gewahrsein zu bezahlen. Wenn Er mich schlug, hasste ich Ihn. Wenn Er aufhörte, hasste ich mich dafür, dass ich Ihn gehasst hatte.
    Aber ich sorgte immer wieder dafür, dass Er mich schlug.
    Da war kein Schmerz mehr. Ich öffnete die Augen. Der Nebel war leer, er wirbelte in langsamen Strudeln vor sich hin. »Hallo?« Der Nebel fing meine Stimme auf und warf sie zurück, sodass sie die Lieder ausblendete. »Hallo?«
    Niemand antwortete. Ich schlang die Arme um mich und zitterte noch stärker. Dies war irgendwie nicht richtig: Ich war nie allein. Es war immer jemand im Nebel, der mich bestrafte oder tröstete. Sie ließen mich nie allein. Sonst könnte mir etwas zustoßen. Etwas könnte mich ängstigen. Etwas könnte mich …
    Könnte …
    Etwas könnte mich wecken.
    »Wie viele Meilen nach Babylon? Drei Dutzend und noch zehn«, flüsterte ich. Ich erinnerte mich, dass jemand anderes dies gesagt hatte, eine Frau mit dunklem Haar und Augen wie Nebel. Sie drückte mir eine Kerze in die Hand, sie sagte mir den Pfad, dem ich hin und auch zurück folgen konnte und versprach, dass die Kerze mich schützen würde. Es gab Gefahren, ja, viele Gefahren, aber es gab ja den Pfad, dem ich folgen konnte. Ich erinnerte mich an den öligen Schimmer ihrer Haut, an ihre spitzen Finger, die sich so leicht zu Klauen formten …
    Die Luidaeg.
    Ich schnappte nach Luft, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Die Luidaeg. Sie gab mir meine Kerze und brachte mich auf den Pfad zu Blind Michael. Ich war in Sicherheit, solange ich die Kerze trug und auf dem Pfad blieb. Ich war in Sicherheit, bis … oh,

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