October Daye: Nachtmahr (German Edition)
von uns sind Reiter, andere nicht. Manche verändern sich nur ein bisschen und kehren dann in den Saal zurück. Dies wird mein fünfter Ritt.«
Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Sie schien mein Schweigen als Furcht zu deuten, denn sie lächelte. »Du wirst nur ein einziges Mal reiten, aber Er hat uns versprochen, dass es wehtun wird.«
Kichernd wandte der Zentaur sich ab, trabte zurück zu dem Pulk berittener Kinder und nahm sie mit. Sie waren froh. Die Glücklichen.
Und dann kamen die Reiter. In Rüstung und Waffen saßen sie hoch zu Ross auf ihren verwandelten Pferden, und der Unterschied zu den Kindern war so groß wie der Unterschied zwischen Gebirge und Sand. Sie waren keine Verlorenen mehr, sie waren aus freien Stücken dabei. Einer von ihnen hob ein Jagdhorn, stieß hinein und blies drei spitze Töne, und dann kam Acacia aus dem Dunkel herangeritten. Sie saß so kerzengerade im Sattel wie die Bäume, die ihre Kinder waren.
Weidenzweige waren in ihr Haar gewunden, und unter ihrem Umhang trug sie die gleichen gelben und grünen Fetzen wie ich. Der Blick, den sie mir zuwarf, war voller Gram, doch zugleich nicht ganz ohne eine gewisse Erleichterung. Wenn das Werk dieser Nacht vollbracht war, würde sie frei sein. Ihr Pferd hatte die Farbe frisch gesägten Holzes, und in Mähne und Schwanz mischten sich alle Rot-, Gold- und Grüntöne des Herbstes.
Sie ritt bis zur Spitze des Trosses, dort hielt sie mit einem Knacken, so scharf und plötzlich wie das Brechen eines Zweiges. Sie musterte uns alle und fragte dann laut: »Was reitet hier?«
»Blind Michaels Jagd, durchstreift die Nacht«, riefen die Reiter einstimmig.
»Wer reitet hier?« Der Widerwille war fast unmerklich, doch er war da.
»Die Kinder, die uns folgen, die wir gewonnen, gekauft und geraubt haben.«
»Für wen reitet ihr?«
»Für Blind Michael, der uns führt und liebt.«
»Wofür reitet ihr?«
»Für die Jagd selbst. Für die Jagd und den Ritt und die Nacht.«
Acacia erschauerte und sah regelrecht angewidert aus. Ich war ziemlich sicher, dass das nicht im Drehbuch stand. »Dann sollt ihr reiten heute Nacht, und euer Herr reitet mit euch.« Sie hob die Zügel, lenkte ihr Pferd in den Tross, und ich sah, wie sie mir einen Blick zuwarf, als sie hinzufügte: »Möge Oberon euch allen beistehen.«
Blind Michael kam aus derselben Dunkelheit herangeritten, die plötzlich viel finsterer wirkte. Seine Rüstung bestand aus Elfenbein und Knochen, spiegelblank poliert, und sein Pferd war riesig und kohlschwarz mit Hufen aus Stahl. Ich versuchte mir zu sagen, dass das alles Illusion war, dass er nur ein ganz gewöhnlicher Erstgeborener war, doch es war schon zu spät. Seine gewaltige Pracht brach über mich herein, und ich war Sein.
Er zügelte Sein Ross vor uns und lächelte wohlwollend. Ich wollte zu Ihm eilen und mich tief verbeugen, wollte um Seine Liebe flehen, Seine Aufmerksamkeit – Seinen Segen. Ein Teil von mir wusste genau, dass es nichts als die Wirkung des Banns war, doch das machte keinen Unterschied mehr. Er war mein Gott, so alt und schrecklich wie der Himmel selbst, und ich gehörte Ihm, auf dass Er mich gebrauchte, wie Er es für richtig hielt. Ich konnte mich noch immer nicht rühren, und jener winzige, sterbende Teil von mir war froh darüber. Er würde meine Lehnstreue schon bald genug haben. Ich musste sie ihm nicht noch andienen, ehe er sie sich nahm.
»Meine Kinder«, dröhnte er, »leiht mir eure Augen.« Sein Wort war mir Befehl. Ich schloss die Augen, murmelte die Beschwörungsformel, die sie mir beigebracht hatten, und wartete im Nebel. Ich spürte, wie meine Sicht sich aufspaltete, und als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich eine völlig veränderte Welt. Jedes Mitglied der Jagd schaute durch meine Augen, und ich schaute durch ihre. Blind Michael trug Seinen Namen zu Recht, doch Er hatte einen Weg gefunden, wie Er Seine Blindheit umgehen konnte: Er sah durch Seine Kinder. Durch uns alle.
»Und nun, meine Kinder, nun reiten wir«, sagte Er und lächelte. Und die Dunkelheit teilte sich vor Ihm wie ein Vorhang, als Er Sein Pferd wendete und zum Galopp antrieb. Die Reiter folgten und zogen die gefangenen Kinder mit. Sie zogen dicht an mir vorbei, und ich merkte, wie ich zurückfiel und im hinteren Teil des Trosses landete. Mein Geist klärte sich etwas, als Blind Michael sich von mir entfernte, und mein gebeutelter Verstand erhielt eine Chance, sich aufschreiend zu melden. Das war kein Gott. Es war ein
Weitere Kostenlose Bücher