October Daye: Nachtmahr (German Edition)
ein. Als ich erwachte, hielt der Bus eben auf dem Parkplatz am Paso Nogal Park. Wie aufs Stichwort verdrückten sich alle in alle nur denkbaren Richtungen, die Eltern schulterten ihre schlafenden Kinder und strebten heimwärts. Viele blieben kurz bei mir stehen, um mir die Hände zu schütteln und bedeutungslose Laute der Wertschätzung abzusondern. Ich lächelte und nickte und tat, als würde ich nicht mitkriegen, dass sie es allesamt vermieden, meinem Blick zu begegnen.
Uns Übriggebliebene führte Luna in den Mugel – auf einer Abkürzung, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte und die fast nichts von der obligatorischen peinlichen Gymnastik erforderte. Betrügerin.
Sobald wir drinnen waren, verließ sie uns und sagte, sie müsse Sylvester suchen gehen. Quentin und Cassandra zogen los, um Mitch und Stacy anzurufen. Connor schloss sich Luna an, und mir wurde bewusst, dass ich Tybalt nicht mehr gesehen hatte, seit wir aus dem Bus gestiegen waren. Ich sah May fragend an.
»Wo steckt denn – «
»Er meinte, er hätte Katzenkram zu tun.« Sie zuckte die Achseln.
»Na schön. Und was jetzt?«
»Komm mit. Luna meinte, du wirst Hunger haben. Und, du weißt schon«, sie ließ ein müdes, aber sonniges Lächeln aufblitzen, »Nudistentabus.« Damit zog sie los. Zielsicher manövrierte sie uns mit einer lässigen Selbstverständlichkeit durch den Mugel, die mir einiges darüber sagte, wie viel Zeit sie seit meinem Verschwinden hier in Schattenhügel verbracht hatte. Dies war keine geborgte Vertrautheit. Das war sie selbst.
Nach einem etwa fünfminütigen Marsch durch diverse Korridore stieß sie die Tür zu einem kleinen, eichenholzgetäfelten Raum auf. Vor uns stand auf einem gedeckten Tisch eine Mahlzeit aus Aufschnitt, Brot, Früchten und Käse, und auf einem der Stühle lag ein Stapel frisch gewaschener Klamotten bereit. Oben auf dem Stapel hatte sich Spike zusammengerollt, den Kopf auf den Vorderpfoten. Er sah bedrückt aus.
»Hey, Spike«, sagte ich.
Sein Kopf fuhr in die Höhe, und im nächsten Moment schoss er von dem Kleiderstapel herunter und warf sich mir wild maunzend entgegen. Ich verblüffte mich selbst damit, dass ich laut auflachte, als ich in die Hocke ging und die Arme ausbreitete. Spike sprang kopfüber hinein und stieß mir zirpend seinen stacheligen Schädel unters Kinn, fast hätte er mich gründlich perforiert.
»Ich hab dich auch vermisst, Kleiner«, sagte ich und streichelte ihn.
»Ich hatte verteufelt Mühe, ihn zum Essen zu bringen«, sagte May, ging zu dem Stuhl und hob den Stapel Kleidung an. »Die hier sind von zu Hause. Wir dachten, die würden dir schon noch passen, allerdings bist du viel dünner geworden, als ich angenommen hab. Haben sie dir dort gar nichts zu essen gegeben?«
»Ich erinnere mich nicht«, sagte ich.
Es folgte eine spannende Erfahrung: der Versuch mich anzuziehen mit einem Rosenkobold auf dem Arm, der auf gar keinen Fall abgesetzt werden wollte. Mit viel kreativem Gezappel und ein wenig Hilfe von May bekam ich es schließlich hin. Sobald ich etwas Kleidung trug, fühlte ich mich deutlich besser, und noch erheblich viel besser, als es May gelang, Spike lange genug von meiner Schulter zu entfernen, dass ich in meine Jacke schlüpfen konnte. Noch immer roch das Leder ganz leicht, aber beruhigend nach Poleiminze.
»Und was kommt jetzt?«, fragte May, als sie zurücktrat.
Ich ergriff eine Scheibe Brot und betrachtete kurz den Aufschnitt, dann belud ich das Brot damit, um mir ein Sandwich zu machen. »Ich werde das hier essen, mich kurz bei Sylvester melden, und dann – «
»Dann geht sie wieder in Großvaters Reich zurück.«
Die Stimme klang unangenehm vertraut. Ich verkrampfte mich und vergaß mein Sandwich, als ich mich der Frau im Türrahmen zuwandte. »Rayseline.«
»October«, gab sie im gleichen Tonfall zurück. »In Wahrheit bist du insgeheim eine Kakerlake, stimmt’s? Keine Sorge, du kannst es mir ruhig verraten. Ich werde darum nicht schlechter von dir denken. Das ist allerdings auch kaum möglich.«
»Nein, ich bin keine Kakerlake, nur schwer umzubringen.« Ich legte mein halb fertiges Sandwich ab. »Was ist Euer Begehr?«
»Ich wollte bloß einen Blick auf die wandelnde Leiche werfen.« Sie lächelte.
Rayseline Torquill war schon an und für sich eine beängstigende Person, und was ich inzwischen über Lunas Herkunft erfahren hatte, machte ihre Präsenz keineswegs behaglicher. Es half auch nicht, dass sie mehr nach ihrem Vater kam als nach
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