October Daye: Nachtmahr (German Edition)
der Eiche schlug mit einem hohlen Knall hinter uns zu, der furchtbar endgültig klang. Ich blieb stehen und starrte blicklos in die Landschaft.
Die anderen mochten vielleicht denken, sie hätten mich befreit, aber ich wusste – mit einer Gewissheit, die mir tief in den Knochen steckte – , dass dem nicht so war. Blind Michael hatte mich zu lange gehabt, als dass diese Art der Rettung einfach so funktionierte. Ein Teil von mir gehörte noch ihm – würde ihm vielleicht immer gehören, ganz gleich was noch geschah – , und wenn er weiterleben durfte, würde dieser Teil von mir beständig versuchen, mich zu ihm zurückzuschleifen. Ich konnte so tun, als ob nichts los wäre, oder ich konnte mir eingestehen, dass nichts gut war, und etwas dagegen unternehmen.
Blind Michael war ein Monster, und er war schon viel zu lange unangefochten mit allem durchgekommen. Wie viele Kinder mochte er über die Jahrhunderte entführt und verstümmelt haben? Hunderte? Tausende? In Faerie bedeuten Kinder mehr als fast alles andere, und doch hatte nie jemand gewagt, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Jemand musste es tun. Schon längst hätte das jemand tun müssen.
Ich wünschte bloß, dieser Jemand müsste nicht ausgerechnet ich sein.
Nichts warnte mich vor, ehe sich eine Hand schwer auf meine Schulter legte. Ich erstarrte, fluchtbereit, da sagte Sylvester: »Ich weiß, wo du hinwillst, October.«
Ich drehte mich um und sah zu ihm auf. »Wie lange steht Ihr schon hier draußen?« Ich hatte ihn nicht bemerkt. Für jemanden mit dermaßen roten Haaren konnte er sich bemerkenswert gut verborgen halten.
»Seit Luna mir gesagt hat, dass sie euch nach Hause geholt haben.«
»Ich war bis eben drinnen. Warum habt Ihr denn hier draußen gewartet?«
»Weil ich dich besser kenne, als du denkst.« Er seufzte und sah zutiefst erschöpft aus. »Den Rest unseres Gesprächs kenne ich ebenfalls schon. Du entschuldigst dich, und ich sage dir, dass alles in Ordnung ist. Du erklärst mir, dass du in Blind Michaels Lande zurückmusst, und ich sage, dass ich dich nicht aufhalten kann. Klingt das so weit zutreffend?«
»Ja … «
»Ich würde nicht mal im Traum daran denken, dich aufzuhalten.«
Okay: Das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich starrte ihn an, und er lächelte. Ich wollte fragen, warum er mich nicht aufhalten wollte, aber ich fand keine Worte. Nicht ein einziges.
»Ich kenne dich zu gut, Toby«, sagte er immer noch lächelnd. »Manchmal wünschte ich, es wäre anders, glaub mir. Ich hätte so gern ein paar Illusionen, an denen ich mich festhalten könnte – aber die habe ich nicht mehr. Ich kenne dich einfach zu gut.«
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
»Das soll es nicht. Früher bin ich selbst losgezogen, um den Helden zu spielen. Wenn ich müsste, würde ich es wieder tun.« Sein Lächeln wurde wehmütig. »Ich würde es alles noch einmal tun, und ich würde vieles anders machen. Wenn gewisse Leute sich still verdrücken wollten … nun, heute wäre manches anders. Aber wir können die Vergangenheit nun mal nicht ändern, und jetzt kann ich zusehen, wie du losziehst. Ich war bei deiner Geburt dabei. Ich war dabei, als du von einem verwirrten kleinen Mädchen zu einem meiner besten Ritter herangewachsen bist. Ich sollte dich nicht sterben sehen müssen.«
Ich schloss die Augen und erschauerte. Er versuchte nicht, es mir auszureden, und irgendwie machte das alles noch schlimmer. »Es tut mir leid. Aber es ist wichtig.«
»Das ist der einzige Grund, aus dem ich dich ziehen lassen kann. Jetzt sieh mich bitte an.« Ich machte die Augen auf. Mit ruhiger Hand hielt er mir sein Schwert samt Scheide entgegen. »Ich weiß, wohin du gehst. Ich halte dich nicht auf. Aber ich lasse dich nicht allein gehen.«
»Sylvester – «
Er sprach weiter, ohne auf meine Unterbrechung zu achten. »Dies war die Klinge meines Vaters. Er gab sie mir, als ich das erste Mal in den Krieg zog. Er sagte, sie habe ihn nie im Stich gelassen, und sie würde mich auch nie im Stich lassen. Wenn ich einen Sohn hätte, würde er sie bekommen. Sie hätte Raysel gehört, wenn Raysel sie gewollt hätte. Aber meine Tochter hat nie verstanden, was es heißt, das Schwert des eigenen Vaters zu tragen.«
»Sylvester?« Das war alles zu viel, es ging zu schnell für mich. Ich wusste nicht, wie ich mich dessen erwehren konnte.
»Sie ist kein Geschenk: Ich will sie zurück. Falls es sein muss, werde ich sie zurückfordern, wenn ich hinreite, um dich zu rächen.
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