October Daye: Nachtmahr (German Edition)
sind nicht hier«, sagte ich leise. »Ich glaube nicht, dass sie diesseits der Sommerlande sind.«
Sein Gesichtsausdruck zeugte von einem Zustand jenseits von Verstörtheit, auf halbem Wege zur endgültigen Verzweiflung. »Kannst du sie finden?«
»Ich kann es versuchen«, sagte ich.
»Und Karen?«
Eiche und Esche, Karen. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Ich kann ja mal nach ihr sehen.« Ich bin keine Wunderwirkerin, ich bin nur ein Halbblut mit dem Talent, sich nicht umbringen zu lassen. Bisher jedenfalls. Schwierig wird es immer dann, wenn Leute annehmen, weil ich überleben kann, kann ich alles. Ich wünschte, es wäre so. Das würde mein Leben sehr erleichtern.
Ich wandte mich ab und ging ohne ein weiteres Wort zur Treppe. Ich war schon halb unten, bevor ich ihn mir folgen hörte.
Stacy sah auf, als wir runterkamen. Sie hing immer noch an Karens Hand. Cassandra saß auf der anderen Couch, die Arme um Anthony gelegt, ihr Kinn ruhte leicht auf seinem Kopf. Die Aufregungen des Tages waren zu viel für ihn gewesen, er war eingeschlafen. Als ich hinsah, kuschelte der Neunjährige sich enger an seine Schwester und wimmerte im Schlaf.
»Habt ihr … «, begann Stacy. Ich schüttelte den Kopf. Sie presste ihre freie Hand an den Mund. Noch nie hatte sie so alt ausgesehen. Ich wusste immer, ihr dünneres Blut bedeutete, dass sie schneller alterte als der Rest von uns, aber das war mir nie so vorgekommen. Sie schien immer viel zu lebendig für jedwedes Anzeichen von Sterblichkeit. Jetzt, wo ihre Kinder in Gefahr waren, offenbarte sich die Vergänglichkeit in vollem Ausmaß. Bei ihrem Anblick war ich nicht sicher, ob sie sich je wieder erholen würde, nachdem ihr die Angst so die Lebenskraft geraubt hatte.
Dabei sah sie immer noch besser aus als ihre mittlere Tochter. Karen war praktisch nur noch eine Wachsfigur ihrer selbst, alle Farbe war aus ihr gewichen. Es war, als betrachtete man eine Leiche mit sanft gespitzten Ohren. Mein Magen hob sich heftig, und ich musste rasch wegsehen, um mich zu fassen. Fae-Leichen gelten als unmöglich. Sehr zum Nachteil meines Seelenfriedens weiß ich, dass das nicht der Fall ist. Es ist möglich, die Nachtschatten fernzuhalten, wenn man sich wirklich anstrengt. Ich rate das keinem.
Spike strich an meinem Bein entlang und winselte aus der Tiefe seiner Kehle, bevor er auf die Couch hüpfte und sich dicht neben Karens Kopf zusammenrollte. Ich kniete nieder und untersuchte sie sorgfältig.
Karen war nicht tot. Sie schlief nur offenbar so tief, dass sie nicht nach Hause fand. Ihr Puls war kräftig, wenn auch langsam. Ich beugte mich vor, um meine Wange über ihren Mund zu halten, und spürte die mühelose Bewegung ihres Atems. Es schien rein körperlich alles in Ordnung mit ihr. Sie wachte nur nicht auf.
»Sie schläft«, sagte ich und hockte mich auf die Fersen. »Ich weiß nicht, warum.«
Stacy starrte mich mit geweiteten Augen an. »Aber, ka-kannst du sie nicht aufwecken?«
»Nicht alleine.« Ich machte eine Pause. Was ich jetzt wollte, war vielleicht zu viel verlangt, aber ich sah keine andere Möglichkeit. »Ich kenne vielleicht jemanden, der es kann. Würdet ihr sie mir mitgeben?«
»Nein!«, rief sie und fuhr auf, um ihre Tochter mit ihrem Körper zu beschirmen. Ich erhob mich und rückte ab, ohne weitere Widerrede. Mütter sind nicht immer logisch. Ich muss es wissen. Ich war mal eine.
»Stacy … « Mitch trat vor. »Wir müssen Toby Karen mitnehmen lassen.«
»Nein! Sie ist unsere Tochter … Mitch, wie kannst du nur?« Sie hängte sich an Karen wie ein ertrinkender Mann an ein Stück Treibholz. Das ergab Sinn. In ihrer eigenen Gefühlswelt ging sie gerade unter. »Wir können sie nicht auch noch weglassen!«
»Toby wird doch bei ihr sein«, brummte er beschwichtigend. »Toby? Wo willst du sie hinbringen?«
»In den Teegarten. Die Undine, die dort lebt, könnte wissen, was zu tun ist.« Undinen sind ortsgebundene Fae. Wenn sie einmal mit einem Gebiet verschmolzen sind, können sie dort nicht mehr weg. Lily hatte den japanischen Teegarten nicht mehr verlassen, seit sie nach Amerika gekommen war.
»Und wenn das nicht klappt?« Er sprach zu mir, aber sein Blick ruhte auf Stacy. Er versuchte es ihr begreiflich zu machen. Guter Mann. Er wusste genauso gut wie ich: Solange wir nicht herausgefunden hatten, was mit Karen nicht stimmte, konnten wir sie kaum dazu bringen, aufzuwachen. So ist das mit Schlafzaubern.
»Dann bringe ich sie nach Schattenhügel. Vielleicht
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