October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Ihre Katzennatur sorgt dafür, dass sie tagsüber meist schlafen. »Bist du sicher?«
»Das Viertelblut ist die Jüngste – sie ist erst sechs, und sie lebt immer noch menschlich. Ihre Mutter wachte auf und fand sie nicht. Sie meldete das beim Hof, weil sie annahm, wir könnten das Mädchen zu uns geholt haben. Das erschien uns seltsam genug, um nach den anderen zu sehen.«
Oh, Eiche und Esche. Ich unterdrückte die aufsteigende Panik, um sie aus meiner Stimme zu halten, und fragte: »Warum kommst du damit zu mir, Tybalt?«
»Ich könnte jetzt eine Menge netter Dinge sagen, die nichts bedeuten. Tatsache ist, du bist die einzige Person, die mir einfällt.« Er sah mich weiter gewichtig an. »Du bist gut in solchen Dingen, October. Und außerdem … schuldest du mir noch einen Gefallen.«
Ich blinzelte. »Was?«
»Dich zu fragen bringt den Hof nicht in die Verlegenheit, einem der hiesigen Adligen verpflichtet zu sein.« Ein weiteres Lächeln – ein bitteres – geisterte kurz über seine Lippen. »Es gibt eine Grenze dafür, was meine Untertanen tolerieren. Es obliegt meiner Verantwortung, die Kinder zurückzuholen, aber ich kann dafür nicht unsere Souveränität gefährden. Ich bitte dich. Übernimm diesen Fall, und es gibt keine Schulden mehr zwischen uns. Dann ist alles beglichen.«
Tybalt hatte mir geholfen, ein enorm mächtiges Artefakt zu verstecken, nachdem seine Besitzerin gestorben war. Seitdem stand ich in seiner Schuld, was ihm gut gefiel. Dass er mir jetzt meine Auslösung anbot …
»Hilf mir, Karen in den Teegarten zu bringen, dann reden wir darüber«, sagte ich, harkte mir gedankenlos durch die Haare und zuckte zusammen, als die Bewegung an meinen Verbänden zerrte.
Tybalt musterte meine Hände und fragte: »Was hast du dir schon wieder angetan?«
»Ich hab ein Fenster berührt«, sagte ich. »Komm jetzt.«
Kaum hatten wir den Schatten hinter dem Imbiss verlassen, da spürte ich, wie sich ein Bann über uns legte, und es roch nach der für Tybalts Magie typischen Mischung aus Moschus und Poleiminze. Ich warf ihm einen Seitenblick zu, und er lächelte, diesmal etwas aufrichtiger.
»Ich dachte, es ist das Beste, wenn wir nicht gesehen werden«, sagte er.
»Okay.« Ich hätte mich aufregen können, weil er ohne meine Genehmigung einen Bann über mich legte, aber ich war nur erleichtert, dass er den Bedarf erkannt hatte. Und noch erleichterter, weil ich es nicht war, die den Sieh-nicht-her-Zauber erzeugen musste. Denn mir schwante, dass ich noch alle Reserven brauchen würde, die ich nur anzapfen konnte.
Wir bildeten eine seltsame kleine Prozession, als wir zum Japanischen Teegarten wanderten: Ich vorneweg, hinter mir Tybalt, der Karen trug, und dazu Spike, der Kreise um uns drei zog. Ich versuchte das dumpfe Pochen in meinen Händen zu verdrängen. Je mehr wir uns dem Tor näherten, desto dichter hielt sich Spike an meinen Füßen, nur gelegentlich schoss er los, um ein paar Tauben aufzuscheuchen. Dafür, dass sie von einem lebendigen katzenförmigen Rosenbusch gejagt wurden, wirkten die Vögel relativ gelangweilt. Das Leben im Golden Gate Park hatte sie wohl an das Bizarre gewöhnt. Ich verstehe das. Es ist ein sehr befremdlicher Ort.
Der Park liegt im Zentrum von San Francisco, also mitten im Machtbereich der Königin, die Nordkalifornien regiert. Trotzdem steht er nicht unter ihrer Lehnstreue, sondern dient rund einem Dutzend unabhängiger Höfe als Heimat. Die haben ihre eigene Hierarchie und Etikette. Etliche Mitglieder des königlichen Adels haben – zu ihrem Entsetzen – lernen müssen, dass es schmerzhafte Folgen hat, sich in Belange der Höfe vom Golden Gate einzumischen. Lilys Hof wiederum ist der älteste und bekannteste unter den Unabhängigen. Sie bestimmt das Gesetz im Teegarten, und das beeinflusst die Gesetze im ganzen Park. Kein Fae, der hier lebt, würde bewusst gegen ihre Wünsche handeln. Weil alle ihr stillschweigend folgen, schreibt sie ihnen nichts vor, und weil sie ihnen nichts vorschreibt, folgen sie ihr. Dieser Kreislauf dient seit langer Zeit dem Wohl des Parks.
Das Mädchen im Torhäuschen, das die Eintrittskarten verkaufte, sah bei unserem Erscheinen auf und blinzelte. »Whoa! Da haben wir ja Toby Daye und Tybalt.« Sie wirkte wie das absolute Klischee des Kalifornien-Girls, von den flauschigen blonden Haaren bis zum grellrosa Tank Top. Ihr Make-up war eine sachkundig aufgetragene Kombination aus Blassgrün und Kaugummirosa. Sie sah aus, als würde sie einen
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