October Daye: Nachtmahr (German Edition)
sein, und dann würden sie mich schnappen.
»Jetzt warten wir«, sagte die Piskie.
»Wir warten auf Ihn«, fügte der Urisk zischend hinzu.
»Er wird kommen.«
»Weil du hier bist.«
»Eine Neue.«
»Reiter oder Ross.«
»Und vielleicht nimmt Er einen von uns mit, wenn Er dich holt.«
»Auf den Ritt – «
»– die Jagd – «
»– dorthin, wo die Dunkelheit wartet – «
»Er holt uns nach Hause.« Das Letzte sagte der Roan und steckte den Daumen in den Mund, nachdem er gesprochen hatte. Seine Reißzähne passten genau drumherum, berührten kaum die Haut, obwohl das Blut aus seiner aufgeschlitzten Lippe es schwer machte, das genau zu erkennen.
»Wie lange seid ihr alle schon hier?«, fragte ich, die Schultern wohlweislich eng an die Mauer gedrückt. Ihre scheinbare Unschuld hatte mich einmal abgelenkt, ich würde das kein zweites Mal riskieren. An diesem Ort konnte Unschuld tödlich sein.
Die Antworten kamen von allen Seiten, zu schnell durcheinandergerufen, um zu sehen, wer welche gab. »Eine lange Zeit.«
»Lange Zeit.«
»Viele neue Kinder.«
»Ich war auch mal neu.«
»Wir waren alle mal neu.«
Die Piskie umarmte sich selbst und sagte: »Manchmal kommt Er und wählt einen von uns aus, auch wenn keine Neuen da sind. Er nimmt uns mit, dann sind wir bei Ihm, und wir kommen nie wieder hierher zurück.«
»Was ist das hier?« Kinder lieben erzählen – sogar Monsterkinder. Wenn ich sie am Reden halten konnte, erzählten sie mir vielleicht etwas, was ich wissen musste.
»Zu Hause«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund der Menge. Die Piskie warf einen finsteren Blick über ihre Schulter, bevor sie mich wieder ansah, die Augen leicht zusammengekniffen.
»Der Kindersaal«, sagte sie. »Hier warten wir. Du wirst auch warten, wenn du ein Reiter bist.«
»Und wenn nicht?« Ich war sicher, die Antwort würde mir nicht gefallen.
»Wenn du kein Reiter bist, wirst du ein Ross«, sagte der Zentaur mit dünnem Lächeln. »Du kommst nicht wieder her, wenn du ein Ross wirst. Dann kommst du in die Ställe und wartest da.«
Das klang nicht gerade verheißungsvoll. »Und was – « Ein lautes Knirschen erfüllte auf einmal die Luft. Die Flamme meiner Kerze loderte auf, legte noch mal dreißig Zentimeter Höhe zu und erstrahlte in blendendem Weiß. Die Kinder traten zurück und lachten, plötzlich vollkommen unbeschwert. »Was zum Henker?«
»Gleich verstehst du alles«, sagte die Piskie lachend.
Und alles veränderte sich. Die Wände des Kindersaals versanken, und der zertrümmerte Ballsaal verwandelte sich in eine Lichtung, umstanden von knotigen, bedrohlichen Bäumen. Reiter lauerten im Schatten ihrer Äste. Die Kerzenflamme schrumpfte ganz plötzlich auf einen winzigen blauen Funken zusammen, und im nächsten Moment waren die Kinder über mir, umringten mich, kniffen und stießen mich von allen Seiten. Ich versuchte auszubrechen, doch sie zogen mich in ihren Kreis zurück und johlten höhnisch angesichts meiner Bedrängnis.
Von weit her dröhnte eine tiefe Stimme und übertönte die Stimmen der Kinder: »Holt mir den Eindringling. Lasst uns sie sehen.«
Immer noch lachend stießen die Kinder mich vorwärts, und dann sah ich Blind Michael.
Er war groß – nein, er war mehr als groß, er füllte den Himmel aus. Seine Arme waren Baumstämme, und seine Füße waren die Wurzeln der Erde. Ich stand vor ihm und war weniger als nichts. Ich war Staub und trockenes Laub, die über den Himmel huschten, und meine einzige Hoffnung war, dass er diese gewaltigen Arme öffnen würde und ich mich darunter verstecken konnte, bis die Welt zu Ende war. Sein Lächeln war das Lächeln eines mildtätigen Gottes, freundlich und gnädig und willens, alle meine Sünden zu vergeben. Nur seine Augen störten die Illusion von Frieden: Sie waren milchig weiß, wie Eis oder Marmor, und schienen auch fast so kalt. Für einen Augenblick riss es mich in mich selbst zurück, und ich erinnerte mich fast, wer ich war und warum ich hier war. Für einen Moment wusste ich, wonach ich suchte.
Dann wogte der Zauber wieder über mich in einer Welle der Pracht, und Er war meine ganze Welt. Die Kinder gaben den Weg frei, als ich vorwärtsschritt, und ließen mich passieren. Ich war nicht mehr ihr Folteropfer – ich gehörte unserem gemeinsamen Gott, ich war Sein, und Sein allein. Ich atmete kaum noch, als ich die Größe meiner Hingabe erkannte. Ich würde für Ihn leben. Ich würde für Ihn sterben. Ich würde töten im Namen Seiner
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