October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Herrlichkeit.
Ein plötzlicher Windstoß fuhr mir ins Haar und peitschte es mir ins Gesicht, als die Kerze nochmals weiß aufloderte. Die Luft war sofort erfüllt vom beißenden Gestank brennender Haare. Ich riss die Kerze weg, bereit, sie von mir zu werfen – ich brauchte sie nicht mehr, ich war zu Hause – , da löste sich ein Tröpfchen flüssiges Wachs, spritzte mir auf die Lippe und füllte meinen Mund mit dem Geschmack des Bluts.
Es war nicht viel Blut im Wachs, doch es genügte, um den Zauber zu brechen, den er über mich geworfen hatte. Blind Michael war kein Gott, er war nur ein Mann auf einem Thron, der aus altem Holz geschnitzt und mit vergilbten Knochen verziert war. Er konnte den Himmel nicht ausfüllen, selbst wenn er es sich wünschte. Eiche und Esche, was hatte ich da gerade tun wollen?
Ich holte tief Luft, würgte fast vom Geschmack verbrannter Haare und sagte: »Nein.« Mein Schädel dröhnte und pochte, aber dafür war jetzt keine Zeit. Meine Migräne konnte ich später kriegen, wenn nichts mehr zu tun war. »Ich bin nicht Euer. So leicht bekommt Ihr mich nicht.«
»Nicht?«, donnerte er, und sein Zauber überrollte mich wieder. Für einen Augenblick war seine Stimme wie ein Erdbeben. Der Augenblick verging, und der Zauber ging mit ihm, denn es ist schwerer, jemanden zu fangen, der schon mal entkommen ist, selbst wenn diese Flucht nicht bewusst herbeigeführt war. Oberon sei Dank. »Ich bin älter, als du träumen kannst, Kind. Alles ist leicht für mich.«
»Eigentlich bezweifle ich das«, sagte ich. Wenn ich nicht weglaufen kann, suche ich mein Heil in Großmäuligkeit. »Ich träume nämlich ein paar sehr alte Träume.«
»Tatsächlich?« Seine Trugzauber waren verschwunden, und ich konnte ihn jetzt klar erkennen. Er war groß und dünn, mit bräunlich-weiß gestreifter Haut wie Eschenrinde, bernsteinfarbenem Haar und Ohren, die gegabelt waren wie ein Hirschgeweih. Einfach nur ein Fae-Fürst, nicht weniger fremdartig als die Luidaeg und vielleicht sogar noch stärker, aber nicht die fleischgewordene Welt. Er war kein Gott, und ich war heilfroh. Mit Erstgeborenen und Reinblütern kann ich umgehen. Mit Göttern nicht.
»Ich will meine Kinder zurück«, sagte ich und gab mir Mühe, laut und fest zu klingen. Auch wenn er kein Gott war, die Luidaeg hatte Angst vor ihm, das musste ich berücksichtigen. Ebenso wie die Notwendigkeit, lebend hier rauszukommen. »Gebt sie heraus, dann werde ich gehen.«
»Deine ›Kinder‹? Du suchst Spielkameraden? Dann komm, die besten Spiele gibt es hier. Das allerfeinste Spielzeug gibt es hier.« Er griff hinter sich und holte eine kristallene Kugel hervor, in der ein gelber Schwalbenschwanz-Schmetterling gefangen war. Der Schmetterling schlug wie wahnsinnig mit den Flügeln gegen das Glas. »Bleib.«
»Ich kann nicht«, sagte ich mit gemessener Höflichkeit. »Ich habe einen Auftrag zu erledigen.«
»Sie haben dich so jung schon zu Diensten verpflichtet? Armes kleines Ding, du hast vergessen, wie man spielt. Ich kann es dich wieder lehren. Bleib.«
»Nein.«
»Nun denn. Wenn du so entschlossen bist – welche meiner neuen Freunde sind denn ›deine Kinder‹?«
»Die Kinder von Stacy und Mitch Brown. Die Kinder vom Hof der Katzen.« Ich machte eine Pause, dachte an Raj und fügte hinzu: »Und eine Hob namens Helen. Sie alle stehen unter meiner Verantwortung, und ich gehe nicht ohne sie. Gebt sie heraus und lasst uns ziehen.«
Blind Michael lachte. Er klang aufrichtig amüsiert, als er die kristallene Sphäre wieder hinter sich verstaute. »Warum sollte ich?«
Gute Frage. »Weil ich so nett darum bitte?«
»Du bist hier in meinen Landen, kleines Mädchen. Warum sollte ich dich gehen lassen, geschweige denn gestatten, dass du jemanden aus meiner neuen Familie mitnimmst?« Er drehte immer wieder den Kopf, als könnte er mich aus verschiedenen Winkeln betrachten. Ich blickte nach rechts und sah, dass die Kinder auf dieser Seite mich alle angespannt beobachteten, keins von ihnen schaute auf ihren Herrn. Die Reiter hingegen sahen nur zu Blind Michael hin, als wäre ich gar nicht da. Interessant.
»Weil ich unter dem Schutz Eurer Schwester stehe.« Ich hielt meine Kerze hoch. Die Flamme war zu einem glühenden Funken geschrumpft, brannte aber noch. Ich versuchte daraus Zuversicht zu schöpfen. »Die Luidaeg hat mir freies Geleit versprochen.«
»Und du hattest freies Geleit durch meine Lande, und durch den Wald meiner Gefährtin. Jetzt bist du zu mir
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