October Daye: Nachtmahr (German Edition)
hierzulassen, aber ich würde es tun. Das wusste ich so sicher, wie ich lieber sterben würde, als Jessica und Andrew erneut den Reitern zu überlassen. Vielleicht machte mich das zu einem schlechten Charakter. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer, es war Zeit für den Abmarsch.
Meine Worte hatten die erhoffte Wirkung. Die Kinder, die wach waren, weckten alle anderen mit einer Eile, die an Panik grenzte, während die Wachen von den Bäumen stiegen, um sich wieder der Gruppe anzuschließen. Ein paar der größeren hoben Helen auf ihre Trage. Das Partnerprinzip schien zur Religion geworden zu sein: Jeder hatte einen, mit dem er Hand in Hand ging. Niemand wollte es allein mit der dunklen Ebene aufnehmen. Ihre Augen blickten trübe und eingefallen wie die Augen von Vertriebenen auf der Flucht vor einem Krieg, den sie nicht verstehen und dem sie nicht entrinnen konnten. Es gab keine Tränen. Die Zeit für Tränen war vorbei. Es war Zeit zu gehen, und niemand von uns wusste, was vor uns lag.
Ich ging voran und führte sie auf die Ebene. Jessica hing untergehakt an meinem Arm, Andrew an meinem Pulloverzipfel, und hinter uns formierten sich wieder die Hände haltenden Ketten. Quentin lief neben mir und stützte Katie, so gut er konnte. Ich hatte mir vor allem Sorgen um Helen gemacht, doch ich hatte Raj unterschätzt, der in Windeseile die kräftigsten der Kinder ausfindig gemacht hatte: Zu sechst übernahmen sie das Ziehen der Schlepptrage, lösten sich regelmäßig ab, sodass keiner zu müde wurde, während die Kleinsten abwechselnd bei Helen mit aufsteigen durften. Es war ein gutes System, und wir kamen dadurch schneller voran, als ich befürchtet hatte.
Spike hielt sich am Ende der Prozession. Greinend und dornenrasselnd trieb er uns fortwährend zur Eile an. Blind Michael würde uns nicht ewig verfehlen. Hinzu kam: Meine Kerze schmolz immer weiter, sie war kaum noch halb so groß wie zu dem Zeitpunkt, als die Luidaeg sie mir gegeben hatte, und ich hatte keine Ahnung, wie lange sie noch halten würde.
Raj beaufsichtigte einen Schichtwechsel der Schleppträger und kam dann nach vorn. »Wie weit müssen wir noch gehen?«, fragte er leise. »Alle sind erschöpft. Wenn es so weitergeht, muss Helen bald laufen.«
Manchmal ist die unverblümte Ichbezogenheit von Katzen einfach staunenswert. Es war glasklar, dass die Mehrzahl der Kinder ihn nicht im Geringsten kümmerte, aber Helen gehörte zu ihm. Er wollte sie in Sicherheit wissen.
Ich war zu müde zum Lügen. »Ich weiß es nicht.«
»Was?« , fauchte er und legte die Ohren flach an den Kopf. Auch Quentin starrte mich an und packte Katie fester.
»Wir kommen hin und zurück mit der Kerze Licht.« Ich zuckte die Achseln. »Die Kerze haben wir. Nun müssen wir den Weg hinaus finden.«
»Hast du denn nicht … einen Wegezauber oder eine Landkarte oder so was bekommen? Gar nichts?«
»Ich hab eine Kerze.« Die Anweisung lautete »hin und zurück«. Das hieß wohl, dass ich dort wieder rausmusste, wo ich reingekommen war, und das wiederum hieß, wir mussten durch die dunkle Ebene.
»Was ist, wenn das nicht reicht?«, fragte er. Jessica hob den Kopf und machte große Augen. Ich sah mich um. Etliche Kinder starrten uns tief beunruhigt an. Er machte ihnen Angst.
Alles klar. Ich funkelte ihn an. »Das reicht jetzt. Raj, bitte mach es nicht noch schlimmer, als es schon ist. Ich kriege uns schon hier raus. Versprochen.« Ich und meine große Klappe. Versprechen sind bindend. Ich muss unbedingt lernen, nicht dauernd welche zu machen. Der Cait Sidhe starrte mich lange an, bevor er sich abwandte und zurück zu Helens Trage ging, wobei seine Körperhaltung deutlich sein Unbehagen signalisierte. Ich konnte es ihm nicht verübeln – ich an seiner Stelle wäre auch nicht froher gewesen – , aber wir mussten unbedingt in Bewegung bleiben.
Wir wanderten gefühlte Stunden, ehe die Landschaft allmählich vertrautere Umrisse zeigte. Die Felsen sahen jetzt weniger beliebig aus und mehr wie Landmarken. Ich blieb stehen, als ich die ersten Fußabdrücke sah. Mit einem Winken ließ ich die Gruppe haltmachen, kniete mich hin und betrachtete den Boden. »Quentin, Raj, kommt mal her.«
Zögerlich vertraute Quentin Katie einem der Schleppträger an und kam dann herüber. Er erreichte mich gleichzeitig mit Raj. »Was ist los?«, fragte er.
Ich zeigte auf die Fußspuren. »Sind das meine?«
»Sie riechen nach dir«, sagte Raj.
Quentins Antwort ließ länger auf sich warten. Mehrmals sah
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