Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
Vom Netzwerk:
ehe ich mich langsam, zögerlich entspannte. Devin hatte gesagt, er würde die Kinder am Vormittag schicken. Mittlerweile war es nach Mittag; ich hätte sie längst erwarten sollen. Also zog ich den Gürtel meines Morgenmantels zu, ging zur Tür und öffnete sie.
    Gillian stand auf der Schwelle.
    Ich hatte mein kleines Mädchen nicht mehr aus der Nähe gesehen, seit sie zwei Jahre alt gewesen war. Für mich war sie also nur eine Gestalt, die ich durch ein Teleobjektiv kannte, jemand, von dem ich heimlich Bilder schoss, wenn mich das Selbstmitleid überwältigte und ich auf meine alten, berufsbedingten Fähigkeiten zurückgriff, um über die Tochter, die ich verloren hatte, auf dem Laufenden zu bleiben. Das spielte aber keine Rolle. Manche Leute erkennt man auf Anhieb, ganz gleich, wie weit man sich voneinander entfernt hat.
    Sie war größer als ic h – zwar nur wenige Zentimeter, aber doc h größer – und besaß den fohlenhaften Körperbau eines Mädchens, dessen Wachstum noch nicht ganz abgeschlossen war. Sie hatte das dichte, dunkle Haar ihres Vaters, mit diesen leichten Wellen, die ich immer geliebt hatte, und außerdem seinen italienischen Teint. Sogar ihre Augen waren die seinen. Mir ähnelte sie in keiner Weise, und dafür liebte ich sie umso mehr.
    Ich muss wohl einen Laut der Überraschung von mir gegeben haben, denn sie schaute auf und lächelte. Für jenes Lächeln hätte ich alles gegeben, was ich besaß, und sogar noch einiges mehr.
    »Gilly?«, flüsterte ich.
    Ihr Lächeln wurde breiter. »Hallo, Mama.«
    »Gilly«, wiederholte ich, als versuchte ich, mich selbst zu überzeugen. »Du bist hier.«
    »Ich hoffe, du hast nichts dagegen?« Sie biss sich auf die Lippe, und das Lächeln verpuffte so rasch, wie sie es aufgesetzt hatte. »Ich habe deine Adresse von einem der Briefe, die du Papa geschickt hast. Ich dachte, vielleicht hättest du nichts dagegen, wenn ich mal bei dir vorbeischaue. Bloß, um dir frohe Weihnachten zu wünschen und so.«
    »Dagegen? Warum sollte ic h – nein! Ich meine, nein! Kein bisschen. Du kannst bleiben, so lange du willst.« Die Worte sprudelten zu schnell aus mir heraus und verhedderten sich ineinander. Ich zwang mich zur Ruhe. »Bitte, komm rein. Komm rein.«
    Wieder lächelnd trat sie an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür und hätte am liebsten geschrien, gelacht, geweint und einen Tanz aufgeführt. Stattdessen begnügte ich mich damit, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken und sie aufmerksam zu beobachten.
    Gilly sah sich im Zimmer um und runzelte die Stirn. »Mama? Geht es dir gut?«
    »Was?« Ich folgte ihrem Blick zur Couch und zuckte zusammen, als ich den Schlamm und das Blut sah, die dort die Kissen verkrusteten. »Ach das. Ja, Gilly, es geht mir gut. Mir ist nur bei der Arbeit ein Malheur passiert, und ich hatte noch keine Gelegenheit, beim Reinigungsdienst anzurufen, das ist alles.« Ich zögerte. »Heißt es noch Gilly? Ich meine, du bist inzwischen viel älter. Gefällt dir Gillian besser?«
    Sie ignorierte meine Frage und sah sich weiter um. »Bei der Arbeit? Ich dachte, du arbeitest in einem Supermarkt.«
    »Es kann ganz schön körperbetont werden, wenn man im Lagerraum Kisten verschiebt.«
    »Warst du beim Arzt? Bist du auch sicher, dass alles in Ordnung ist?«
    »Ja, Liebling, ich bin sicher.« Beiläufig zog ich meinen Morgenmantel etwas fester zu, um die blauen Flecken an meinem Hals zu verbergen. »War bloß ein kleiner Kratzer, der stark geblutet hat.«
    »Aha, ich verstehe«, erwiderte sie und verrenkte sich den Hals, um den Flur hinabzuspähen. Einen Moment lang meinte ich, dass sie sich beinah enttäuscht anhörte. »Du lebst allein, oder? Ziemlich große Wohnung für eine Person.«
    »War ein günstiges Angebot und ist mietpreisgeregelt. Ich wohne hier nur mit den Katzen. Gefällt mir so. Es ist friedlich.« Ich log, hoffte jedoch, dass sie es nicht bemerkte. Ich wollte sie nicht verscheuchen.
    »Und die Nachbarn?«
    »Habe ich einige. Aber ich kenne sie nicht besonders gut.« Meine Schulter begann zu pochen. Ich versuchte, sie mit der Handfläche zu massieren. Es half nicht. »Kann ich dir etwas anbieten? Milch? Kaffee?« Tranken menschliche Teenager überhaupt Kaffee? Ich wusste es nicht.
    Sie schüttelte den Kopf, ihr Lächeln wurde geheimnisvoll. »Schon gut, ich esse bald. Darf ich den Rest der Wohnung sehen?«
    »Sicher, mein Schatz.« Ich setzte mich in Richtung des Flurs in Bewegung, bemühte mich, nicht zu humpel n

Weitere Kostenlose Bücher