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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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mich fest. Ärgerlich meinte er: »Mittlerweile hättest du aber schreien sollen. Es schmeckt nicht so gut, wenn du nicht schreist. Warum schreist du nicht für mich?«
    »Tut mir leid, aber wir servieren hier nur leichte Schmerzen«, presste ich flüsternd zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Keine künstlichen Farb- oder Geschmacksstoffe.« Diesmal ließ die Kreatur beide Schultern los. Ich spannte mich an und wappnete mich für einen Hieb, der jedoch ausblieb. Stattdessen hörte ich, wie das Wesen zurücktrat.
    Nach einem langen Augenblick der Stille öffnete ich die Lider.
    Der Doppelgänger hatte nun so gut wie jede Ähnlichkeit mit Gilly verloren, Maeve sei Dank. Er war größer, breiter und vollkommen geschlechtslos. Die Winkel seines Körpers wurden unerklärlic h … falsch. Die Haut sprenkelten formlose graue und grüne Flecken, die waberten, während ich hinsah, und dabei leicht die Farbtöne ihrer Umgebung annahmen. Vermutlich besaß er die Gabe, so lange zur Tarnung mit seinem Umfeld zu verschmelzen, bis er bereit war zuzuschlagen.
    »Lauf«, forderte er mich mit tiefer, schnarrender Stimme auf, ehe er wieder lächelte. »Jetzt sofort.«
    Ich hob eine Hand an meine blutende Wange. »Ich soll laufen?«, fragte ich.
    »Lauf. Aber keine Sorg e – du bist nicht schnell genug. Ich werde dich erwischen. Trotzdem macht es mir mehr Spaß, wenn du es versuchst.«
    Ich habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht, wie viel Spaß Leute haben, wenn sie versuchen, mich umzubringen. Was jedoch nicht bedeutete, dass ich stehen bleiben und auf den Tod warten musste. Die Couch befand sich zwischen mir und der Pistole des Powrie, der Doppelgänger zwischen mir und der Tür. Somit blieb nur eine Richtung, die ich einschlagen konnte, und das tat ich.
    Ohne auf die Schmerzen in meinem Bein zu achten, drehte ich mich um, rannte in den hinteren Bereich der Wohnung und schlug die Flurtür zu, als mir jeder spätnächtliche Horrorfilm, den ich jemals gesehen hatte, durch den Kopf blitzte. Die Fenster im Schlaf- und Gästezimmer waren zu hoch und schmal, um durch sie hinauszuklettern, und im Badezimmer gab es keine. Leider hatte ich, als ich die Wohnung nahm, nicht in Erwägung gezogen, wie schnell ich vor einem mordlüsternen Gestaltwandler daraus flüchten könnte, ohne die Eingangstür zu benutzen.
    Mangels anderer Möglichkeiten raste ich ins Schlafzimmer, sperrte die Tür ab und schob einen Stuhl unter den Knauf. Ich hörte, wie die Flurtür aufgestoßen wurde und so heftig gegen die Wand prallte, dass meine Kaution so gut wie sicher dafür draufgehen würde. Allerdings hatte ich keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich war viel zu beschäftigt damit, den Baseballschläger unter meinem Bett hervorzukramen. Das tat ich eher zur Beruhigun g – ich war nicht so dumm zu glauben, ich könne dieses Wesen mit einem Sportartikel aus dem Discountmarkt erledigen. Aber es gab mir etwas, woran ich mich festhalten konnte, und ich fühlte mich dadurch weniger nackt. Einen Moment erübrigte ich sogar dafür, mich nach der Pistole in meinem Wohnzimmer zu sehnen. Kaum etwas wirkt besser gegen das Gefühl der Ungeschütztheit als schwere Artillerie.
    Die langsamen, geduldigen Schritte des Doppelgängers hallten durch den Gang. Wahrscheinlich hatte das verfluchte Ding eine Menge Spaß daran. Na, immerhin gefiel es überhaupt jemandem.
    Der Geschmack von Rosen nutzte meine Verstörtheit und stieg mir in die Kehle. Und ich spürte, wie die Wunden an meiner Schulter und meinem Oberschenkel wieder zu bluten begannen. Der Blutverlust würde ein Problem werden. Natürlich wäre das ohne Ausweg aus meiner Wohnung und mit einem mordlüsternen Doppelgänger auf den Fersen die angenehmere Art zu sterben.
    Die Schritte hielten vor der Tür inne, und der Doppelgänger flüsterte: »Hab dich gefunden, kleine Diebin. Und jetzt hast du Angst, auch wenn du nicht schreist. Du hast solche Angst, dass ich sie von hier aus schmecken kann.« Ich wich einen Schritt zurück und hielt den Baseballschläger wie ein Schwert vor mir. Wegzurennen versuchte ich erst gar nicht. Wozu auch? Ich konnte ja nirgendwohin.
    Der Doppelgänger schlug heftig gegen die Tür, die sich dadurch nach innen bog. Beim zweiten Schlag gab das billige Furnierholz nach. Es war nicht dafür gedacht, einer Misshandlung solcher Art standzuhalten. Das war dann wohl das Ende. In einem Morgenmantel würde ich durch die Hände eines Doppelgängers sterben, den ich, dumm wie ich

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