October Daye: Winterfluch (German Edition)
den Anrufbeantworter im verwaisten Flur weiterblinken. Sicherheitshalber schloss ich die Tür.
Ich streifte meine Jeans ab, griff mir die eselsohrige Ausgabe der Werke Shakespeares vom Nachttisch und kroch mit dem Rest meines Taggewands ins Bett. Mein Lesezeichen befand sich in der Mitte von Hamlet. Der Text war mir vertraut genug, um einlullend zu wirken. Ich schlief ein, ohne es zu bemerken, und glitt geradewegs ins Reich der Träume.
Die Träume beginnen immer am selben Ort und stets ungemein heimelig: in der sonnigen Küche eines kleinen Hauses in Oakland, Kalifornien, wo eine lächelnde Frau mit weißblondem Haar Kekse backt; eine Szene wie aus einem Donna-Reed-Film. Meine Mutter. Amandine.
Ich wusste immer, dass sie nicht menschlich war. So etwas gehört nicht zu den Dingen, die man vor einem Kind verbergen kann. Länger brauchte ich allerdings dafür zu begreifen, dass ich ebenfalls nicht menschlich war. Meine Familie mütterlicherseits nannte man die Herzlichen, Hüter des Gartenpfads, Kinderräube r … oder im Fall meiner Mutter Angestellte beim örtlichen Discounter. Einen menschlichen Teenager zu spielen, amüsierte sie, und ich schätze, wenn man vorhat, ewig zu leben, tut man, was immer nötig ist, um sich die Zeit zu vertreiben. Die verschlungenen Mechanismen des modernen Einzelhandels waren durchaus dafür geeignet, sie eine Weile zu unterhalten.
Das war im Jahr 1950. Es heißt, damals sei die Welt der Sterblichen noch einfacher gewesen. Für sie jedoch war sie wohl kompliziert genug.
Mein Vater war nicht wie sie, und genau deshalb zog er meine Mutter an wie das Licht die Motten. Sie spielte die Fae-Braut besser als ich; meine Mutter konnte schlagartig einen Trugbann weben und ihre spitzen Ohren und farblosen Augen hinter einem menschlichen Lächeln verbergen, bevor die Leute um sie herum auch nur blinzelten. Sie wurde nie im Freien vom Sonnenaufgang überrascht oder war genötigt, Ausreden aus dem Badezimmer zu rufen, während sie versuchte, ihr Gesicht »zurechtzumachen«. Wir Fae sind Lügner, jeder Einzelne von uns, und sie war am geschicktesten darin. Meine Eltern lernten sich 1951 kennen, heirateten drei Monate später und bekamen mich 1952 in dem Monat, nach dem ich benannt bin.
In dem Traum stellt sie die Kekse auf den Tisch und nimmt mich auf den Schoß, dann essen wir zusammen Keksteig, während wir beobachten, wie sich das Haus von selbst putzt. Der Staubwedel, der Besen und der Mopp bewegen sich wie in einem Disney-Film. Damals war Amandine wirklich meine Mutter; sie grinste ein Schokoladelächeln, während sie mich festhielt und mit ihrer verschrobenen Version der Wirklichkeit glücklich war. Sie war noch nie zuvor eine Fae-Braut gewesen. Das Spiel verzauberte sie, und sie befolgte seine Regeln mit der ihr eigenen Skrupellosigkeit. Wir waren glücklich. Das ist etwas, woran ich mich festzuklammern versuche. Wir waren einmal glücklich. Sie hielt mich auf ihrem Schoß und streichelte mir übers Haar. Sie brachte mir bei, Shakespeare zu lieben. Wir waren eine Familie. Daran kann nichts etwas ändern.
Mein Blut brachte allerdings mit sich, dass es unweigerlich enden musste.
Jeder Wechselbalg ist anders. Manche, so wie ich, sind relativ schwach. Andere bekommen eine volle Ladung Fae-Magie a b – bisweilen mehr als ihre reinblütigen Elternteil e – , und sie kommen damit nicht zurecht. Das sind diejenigen, über die man an den Höfen der Reinblütler munkelt, diejenigen, deren Namen niemand ausspricht, sobald die Feuer gelöscht und die Schäden erfasst sind. Ich hörte die Geschichten, als ich klein war, zuerst von meiner Mutter, wenn sie mich zu Bett brachte, später, nachdem sich die Dinge geändert hatten, von denjenigen, die kamen, um mich zu holen. Ich weiß nicht, wer erleichterter war, als wir herausfanden, wie kümmerlich meine Kräfte ware n – meine Mutter oder ich.
Aber sogar schwache Wechselbälger können gefährlich sein. Man gestattet ihnen, bei ihren menschlichen Elternteilen zu bleiben, solange sie jung genug sind, um ihre Masken instinktiv aufrechtzuerhalten. Doch diese frühe Kontrolle verblasst, wenn sie älter werden, und dann muss eine Wahl getroffen werden. Manche Wechselbälger müssen die Wechselbalgentscheidung schon mit drei Jahren treffen, andere halten bis ins späte Teenageralter durch. Das war das Einzige in meinem Leben, bei dem ich früh dran war, denn ich war sieben Jahre alt, als meine Kleinkindmagie zu versagen begann.
Ich habe keine Ahnung,
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