October Daye: Winterfluch (German Edition)
noch möglich gewesen, sie zu retten?
Mein Wagen sprang trotz der anhaltenden Dezemberkälte mühelos an. Unter anderem deshalb mag ich die alten VW -Käfer. Sie haben ständig Pannen, Ersatzteile sind unmöglich zu beschaffen, und der Verbrauch ist eine Zumutung, aber sie scheinen immer anzuspringen, wenn man sie braucht. Ohne auf den Verkehr zu achten, fuhr ich aus der Garage und vermied nur knapp einen Zusammenstoß mit einer Gruppe von Teenagern, die sich in Papas Lexus drängten. Über einen schmalen Asphaltstreifen hinweg tauschten wir Kraftausdrücke aus, bevor wir in entgegengesetzten Richtungen weiterfuhre n – sie Richtung Innenstadt, ich Richtung Süden, wo sich die teuersten Wohngegenden von San Francisco befinden.
Die meisten Reinblütler in Evenings Alter leben ständig in den Sommerlanden, statt sich mit dem täglichen Stress des Lebens in der Welt der Sterblichen herumzuplagen. Sogar Sylvester, das »menschlichste« Reinblut, das mir je begegnet war, lebte gänzlich auf der anderen Seite des Hügels. Evening jedoch war stur. Sie hatte miterlebt, wie San Francisco um sie herum aufgebaut worden und von einem kleinen Hafenort zu einer blühenden Stadt gewachsen war. Irgendwann im Verlauf der Zeit war San Francisco dabei zu ihrer Heimat geworden, und danach weigerte sie sich schlicht und einfach, diese zu verlassen.
Ich habe sie einmal nach den Gründen gefragt. »Mir ist San Francisco lieber«, antwortete sie. »Die Lügen hier sind anders. Wenn man so lange gelebt hat wie ich, fängt man an, neue Arten der Unaufrichtigkeit zu schätzen.«
Ich erinnere mich nicht daran, wie ich den Weg zu ihrer Wohnung fand. Wenn ich versuche, an die Fahrt zurückzudenken, fällt mir dazu nur ein, dass ich die Augen die ganze Zeit geschlossen haben musste, weil ich so intensiv betete. An sich halten Fae nicht viel von Göttern, aber ich betete trotzde m – dass mich meine Ohren belogen hatten, dass dies bloß eine Art grausamer Weckruf seitens Evenings gewesen sein konnte oder dass dem Universum nur dieses eine Mal klar werden sollte, welchen Fehler es begangen hatte, und dass es ihn zurücknähme.
Die Gegend wurde unterwegs zunehmend exklusiver, die Gebäude nahmen eine elegante Einförmigkeit an. Evenings Wahl des Wohnorts war keineswegs einzigartig unter den Reinblütlern, die diesseits der Hügel leben. Sie besitzen nicht nur tendenziell Bankkonten, die Jahrhunderte zurückreichen, das elektronische Zeitalter hat zudem den Horizont für magischen Betrug in einem erstaunlichen Ausmaß erweitert. Fae-Gold kann für wesentlich mehr als Partytricks verwendet werden. Es funktioniert beispielsweise hervorragend an der Börse, wo das Geld ja ohnehin eine Illusion ist. Die einzigen Reinblütler, die in Armut leben, sind jene, deren Magie zu schwach oder deren Moral zu ausgeprägt ist, um ihnen Lügen dieser Bandbreite zu gestatten.
Evening hatte derlei Probleme nie. Zu meinem Pech läuft es bei Wechselbälgern anders. Derart starke Illusionen über den erforderlichen Zeitraum aufrechtzuerhalten würde mich umbringen, sofern ich sie überhaupt erschaffen könnte. Deshalb ernähren sich die Reinblütler von Kalbfleisch und kandierten Mondstrahlen, während ich zu einer wahren Kennerin geworden bin, was Makkaroni mit Käse betrifft.
Ach, was soll’s. Teigwaren sind wahrscheinlich ohnehin gesünder.
Streifenwagen säumten die Straße vor Evenings Haus. Lichter drehten sich in einem endlos blitzenden, rot-blau-roten Tanz und zerschmetterten das Trugbild der wohlhabenden, unantastbaren Beschaulichkeit, die sich die Gegend so sehr zu vermitteln bemühte. Die Lichter gestalteten es unmöglich, so zu tun, als sei alles perfekt oder als sei dies das mythische San Francisco, das die Popsongs versprachen; dafür war die Szene zu real. Die Passanten betrachteten nervös die Streifenwagen, als fürchteten sie, die Verbrechen oder Tragödien, die ihre Vorstellungskraft heraufbeschworen, könnten auf sie abfärben. Die Menschheit hatte schon immer eine Neigung zu Schuld durch Zugehörigkeit. Welche Schuld hatte Evening auf sich gelade n – die, dass sie gestorben war?
Ich fand einen Parkplatz am Ende des Blocks, wo ich mein Auto zwischen einem Übertragungswagen und einem verbeulten Studebaker parkte. Meine Stoßstange dellte den Übertragungswagen ein, und ich spürte ein Aufflackern von Genugtuung. In meiner Ansammlung von Dellen würde diese neue niemals auffallen, und die Reporter verdienten, was ich ihnen beschert hatte.
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