October Daye: Winterfluch (German Edition)
Sie sollten sich nicht auf den Klang von Sirenen stürzen wie Geier auf überfahrene Tiere.
Wie sehr ich mich in Belanglosigkeiten flüchte, wenn ich Angst habe, erstaunt mich selbst. Ich brauche nur den Punkt zu erreichen, an dem ich vor Panik nicht mehr klar sehe, und schon ist das Ablaufdatum der Milch das Einzige, das zählt. Ich vermute, so schützt sich mein Verstand.
Ich brauchte zwanzig Minuten für den halben Häuserblock zu Evenings Gebäude. Unterwegs hielt ich an, um an Telefonmasten befestigte Flugzettel zu lesen und auf Fenstersimsen hockende Katzen zu beobachten; kurzum, ich tat, was ich konnte, um den Weg länger zu gestalten. Ich wollte nicht dort ankommen, wohin ich unterwegs war. Was natürlich keine Rolle spielte; allzu bald blickte ich an dem eleganten Haus empor, das Gräfin Evening Winterrose in den vergangenen vierzig Jahren als Zuhause gedient hatte. Ich wollte nicht hineingehen. Solange ich das nicht tat, war alles noch nicht real, keine Tatsache, sondern lediglich eine mögliche Wendung der Geschichte, wie bei einer Katze, die man in einen geschlossenen Karton sperrt. Drehte ich mich um und ginge ich nach Hause, könnte ich warten, bis Evening wieder anriefe, um sich hämisch darüber auszulassen, wie leichtgläubig ich gewesen war. Wir würden lachen und lache n … solange ich nicht hineinging. Die Polizei würde die Sirenen abschalten und in die Innenstadt zurückkehren. Ich könnte vergessen, dass Evening mich gebunden hatte; ich könnte den erstickenden Geschmack von Rosen und den Gestank von brennender Eberesche vergessen.
Ich könnte vergessen, dass es meine Schuld war.
Ich stieg die Stufen zur Tür hinauf.
Ein Polizist mit einem Klemmbrett in der Hand stand am Summer. Unverkennbar überprüfte er die Personen, die kamen und ginge n – durch und durch logisch am Eingang eines Privatwohnkomplexes, in dem gerade jemand ermordet worden war, allerdings mehr als ein wenig unpraktisch für mich. Ich straffte die Schultern, kramte eine zerknüllte Quittung aus der Hosentasche hervor und hob sie an, als sich der Mann mir zudrehte.
»Herzkönigin gern Torte backt, am Sommertag und splitternackt«, sagte ich und dachte in seine Richtung: »Ich bin berechtigt, hier zu sein.« Der Geruch von Kupfer und geschnittenem Gras stieg rings um mich auf, als sein Blick glasig wurde. Ich senkte die Quittung. »Kann ich davon ausgehen, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja, Ma’am«, antwortete er lächelnd und winkte mich hinein. »Dritter Stock.«
»Alles klar.« Wen immer er zu sehen glaubte, die Person hatte Zugang zum Tatort; abgesehen davon interessierte mich nicht, für wen er mich hielt.
Der Flur war mit Teppichen in einem Grauton ausgelegt, der die cremefarbenen Wände und das dunkle Teakholz der Beistelltischchen ergänzte. Geschmackvolle Eleganz ohne Pomp. Natürlich war es geschmackvol l – mit einer Monatsmiete könnte ich wahrscheinlich ein ganzes Jahr lang auskommen. Ich erhöhte meine Schätzung um mindestens sechs Monate, als sich die Fahrstuhltüren öffneten und fünf Polizeibeamte sowie einen waschechten Aufzugspagen offenbarten.
Die Polizisten strömten in den Flur heraus. Ich schob mich an ihnen vorbei, nickte dem Pagen zu und sagte: »Dritter Stock.« Er erwiderte mein Nicken, drückte den Knopf, und die Türen glitten zu. Der Fahrstuhl setzte sich so sanft in Bewegung, dass ich es kaum spürte. Unwillkürlich verkrampfte ich mich. Ich hasse es, wenn ich nicht zu sagen vermag, in welche Richtung ich mich bewege.
Ich hatte Evenings Gebäude seit 1987 nicht mehr besucht. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte sich jedoch nichts geänder t – der Ort strotzte nur so vor Eleganz und jener Art von Zeitlosigkeit, die nur Geld kaufen kann. Stillstand ist einer der Vorzüge, wenn man sehr, sehr reich ist. Nichts verändert sich je, es sei denn, man lässt es zu.
Der Page sah mich nervös an. Ich versuchte, ihm so zuzulächeln, als wäre mir wirklich danach zumute. Der erste Mord ist immer am härtesten, wenngleich man sich natürlich nie wirklich daran gewöhnt. Wir hielten im dritten Stock an. Ich stieg aus und ließ ihn ins Erdgeschoss zurückkehren.
Überall tummelten sich Polizisten, eilten geschäftig bald hierhin, bald dorthin und murmelten dabei in jenem kaum vernehmbaren Flüsterton, den nur Polizisten und Kinder verwenden. Zwischen den beiden gibt es mehr Ähnlichkeiten, als man meinen mag, angefangen damit, ob man möchte oder nicht, dass sie einen in einer dunklen
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