October Daye: Winterfluch (German Edition)
seine Glühwürmchenschau abziehen, doch er gebärdete sich jetzt nur noch wie ein gewöhnliches Stück Metall mit kunstvollen Verzierungen. Die Taschenlampe aus dem Kofferraum zu holen stand außer Frag e – ich wollte Tybalt anlocken, nicht blenden. Somit stand ich allein und im Wesentlichen blind an einem Ort, den er für sich beanspruchte, und niemand wusste, wo ich war oder wie man mich finden könnte.
Hatten Sie je eine dieser Erleuchtungen, die ihnen nur zubrüllt: »Du bist ein Vollidiot?« Eine solche begleitete mich, seit ich aus dem Wagen gestiegen war.
Ich stand da, bis meine Zehen taub wurden und ich so heftig zitterte, dass ich Gefahr lief, die Hoffnungslade fallen zu lassen. Der Himmel wurde allmählich heller. Ich hatte noch Zeit, es bis nach Hause zu schaffen, allerdings war es knapp. »Also gut, Tybalt«, sagte ich. »Du gewinnst.« Damit wandte ich mich zum Gehen.
Er stand hinter mir.
Ich quiekte vor Überraschung und konnte gerade noch bremsen, bevor ich in ihn hineinlief. Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Mundwinkel zu einem Lächeln hoch.
»Wirklich?«, fragte er. »Was ist mein Preis? Und warum, meine liebe October, hast du dich so bezaubernd in Schale geworfen? Weißt du, für mich brauchst du dich nicht extra herauszuputzen; mein Herz wirst du nie erobern. Obwohl du es natürlich gerne weiter versuchen kannst, wenn du darauf bestehst. Probier es doch nächstes Mal mit einem Korsett.«
Er lächelte ungebrochen, während ich mich bemühte, erst mal wieder zu Atem zu gelangen. Und er grinste breit, als ich fauchte: »Bei Oberons Nüssen, Tybalt, warn mich nächstes Mal gefälligst vor!«
»Warum? So ist es lustiger.«
Ich blinzelte, und der Drang, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, legte sich. Er würde mich nicht derart aufziehen, wenn er nicht interessiert daran gewesen wäre, was ich hier wollte, und solange er interessiert blieb, würde er mir zuhören. So sind Katzen nun mal. »Also dann, hallo. Hast ja lange genug gebraucht, um aufzutauchen.«
»Ich war beschäftigt.« Er runzelte die Stirn, und seine Stimmung schlug blitzschnell um. »Was tust du hier? Weißt du, die Sonne geht gleich auf. Ich hätte nicht gedacht, dass wir daraus eine Gewohnheit machen wollen.«
»Eigentlich habe ich nach dir gesucht.«
»Du hast nach mir gesucht?« Nun blickte er unverhohlen ungläubig drein. »Hast du jetzt endgültig den Verstand verloren, oder ist das ein Witz, den ich einfach nicht verstehe?«
»Weder noch«, entgegnete ich. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen? Das ist nicht dein Ernst.« Er warf einen weiteren Blick auf meinen Gesichtsausdruck, und seine Augen weiteten sich, während sich die Pupillen zu Schlitzen zusammenzogen. »Es ist offenbar dein Ernst. Wann hast du beschlossen, mich um einen Gefallen zu bitten? Habe ich irgendwas verpasst?«
»Du willst wissen, weshalb?«
»Da ich im Allgemeinen Fragen nur dann stelle, wenn ich gerne eine Antwort hätt e – ja, das wäre nett.«
Ich öffnete den Mun d – und hielt sofort wieder inne. Beinah wäre ich gegen ihn gestolpert, als sich der Druck der Sonne verstärkte und die endgültige Ankunft ihres Aufgehens ankündigte. Tybalt seufzte.
»Ah, das Vergnügen deiner Gesellschaft bei Sonnenaufgang. Wie konnte ich mir je wünschen, darauf zu verzichten?« Wir standen schon so nah beisammen, dass er sich nicht zu bewegen brauchte, um die Arme um meine Hüften zu legen; er tat es einfach und riet mir: »Du solltest vielleicht den Atem anhalten.«
»Wa…?«, setzte ich an, viel zu überrascht, um mich ihm zu entreißen.
»Wie du willst«, sagte er, fiel rücklings und zog mich mit sich in die Schatten, die an der Mündung der Gasse noch vorhanden waren.
Zuvor war es schon kalt gewesen, doch es war eine natürliche Kälte, die eines frühen Morgens in einer Küstenstadt. Nun aber war es geradezu eisi g – die Art von Frost, die bis ins Mark vordringt. Meine Augen waren geöffnet, dennoch sah ich nur Schwärze, eine endlose Finsternis wie jene, von der Kinder schwören, dass sie unter dem Bett oder im Schrank auf sie lauert. Ich sog scharf die Luft ein und spürte ein Brennen in der Kehle, als die Kälte sie versengte.
Zuerst war die einzige Wärmequelle Tybalt, der mich fest an sich gedrückt hielt, die Arme nach wie vor um meine Hüften geschlungen. Dann spürte ich wieder die Hoffnungslade, die meine Haut durch das Plastik hindurch wärmte, das ich um sie gewickelt hatte.
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