October Daye: Winterfluch (German Edition)
mich stumm beim Wetter und trat den Marsch auf den Hang des nächstgelegenen Hügels an.
Die Torquills glauben an Vorsichtsmaßnahmen: Um in ihren Mugel zu gelangen, muss man durch eine Reihe von metaphorischen Ringen hüpfen, die von »albern« bis »lästig« reichen. Nachdem ich den größten Hügel im Park hinaufgestiegen, unter ein Gewirr von Weißdornbüschen gekrochen und sechs Mal gegen den Uhrzeigersinn um eine Eiche gerannt war, hielt ich inne, um Atem zu schöpfen. Der Boden war glitschig und schlammig, aber wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Mein bisher einziger Ausflug nach Schattenhügel bei Rege n – der schon Jahre zurückla g – hatte mich davon überzeugt, dass nichts so dringend sein konnte.
Nachdem ich sicher war, dass ich nicht zusammenbrechen würde, drehte ich mich um und klopfte auf die Oberfläche eines nahen Baumstumpfs. Das Geräusch hallte wider, als rolle es durch eine riesige Halle, und in der hohlen Eiche, die gleich nebenan stand, schwang eine Tür auf. Ich strich meine Bluse glatt, wischte mir mit einer halb angespannten, halb eitlen Geste die Haare aus dem Gesicht und trat durch die Öffnung in den Mugel von Schattenhügel.
Wer immer den Mugel errichtet hatte, besaß feste Vorstellungen davon, wie Raum genutzt werden sollt e – nämlich verschwenderisch und ohne Grenzen. Der Mugel übersteigt die physischen Beschränkungen des Hügels, in dem er sich eigentlich befinden sollte; es gibt Räume, die seit einem Jahrzehnt nicht mehr betreten wurden, Plätze, an die nur Kinder sich erinnern, verborgene Gänge und Gärten, um die sich niemand mehr gekümmert hat, seit wir unseren Herrn und unsere Herrinnen verloren haben. Ursprünglich öffnete sich der Mugel nicht in Paso Nogal, so viel weiß ich. Sylvester hat die Türen irgendwann in den vergangenen zweihundert Jahren hierherversetzt, um sonst unzusammenhängende Orte in der Welt der Sterblichen und den Sommerlanden miteinander zu verbinden.
Evening hatte mir erzählt, dass Sylvester mein Verschwinden als böses Omen auffasste, den Mugel versiegelte und schwor, ihn nicht zu verlassen, bis seine Familie wieder nach Hause käme. Ich kann ihm keinen Vorwurf daraus machen. Er und Luna passten perfekt zueinander, und sie zu verlieren hätte ihn ohne Weiteres umbringen können. Stattdessen hatte es ihn in den Wahnsinn getrieben. Sein Seneschall leitete das Herzogtum, nicht er selbst, und Schattenhügel verfiel in Verzweiflung. Unter den Fae gilt der König als das Land, und in Schattenhügel war der König verrückt.
Jener Wahnsinn brach aus, als Luna nach Hause kam. Von all den Neuigkeiten, die Evening mir mitteilte, als sie mir die Dinge erzählte, die ich verpasst hatte, war dies das Einzige, was mich zum Lächeln brachte. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr durch Schattenhügel zu wandeln, fühlte sich an, als wäre hier nie etwas zerbrochen worden. Alles schien so zu sein, wie es immer gewesen war. Wohin ich auch blickte, überall war zu viel Vergoldung, zu viel Samt und ganz allgemein zu viel von allem. Sogar die Fenster umringten Girlanden aus silbrigen und hellblauen Rosen. Der Geruch bereitete mir Unbehagen, aber Schattenhügel ohne Rosen, das ist undenkba r – jedenfalls, wenn Luna hier ist. Sie ist die Herrin der Rosen, und das Herzogtum spiegelt sie ebenso sehr wider wie Sylvester.
Leute zogen in allen Richtungen an mir vorbei, Reinblütler und Wechselbälger gleichermaßen. Gemeinsam war ihnen das hektische Treiben, das sie an den Tag legten und das nötig war, um einen herzöglichen Hof zu betreiben. Niemand kannte mich, deshalb blieb auch niemand stehen und fragte mich, weshalb ich hier war. Ich hielt inne, öffnete wahllos eine Tür und schaute in einen kleinen Raum, in dem zentimeterdicker Staub den Boden bedeckte. Ein Dienstmädchen mit Eselsschwanz schob sich mit vorwurfsvollem Blick an mir vorbei und fegte drauflos. Ich lächelte matt und ging weiter.
Evening hatte mir nicht erzählt, wo Luna und Rayseline gewesen waren, und ich hatte sie nicht bedrängt. Aufgrund der Dinge, die sie mir nicht sagen wollte, beschlich mich der Eindruck, dass man noch immer nicht recht wusste, was geschehen war. Luna und ihre Tochter waren erst verschwunden gewesen, dan n – nicht mehr. Manchmal läuft es eben so. Das ist einer der Nachteile des Lebens in einem Land, das bisweilen auf einer Kindergeschichte zu basieren scheint.
Am Ende des Flurs begegnete ich einem Lakaien, der meine Aufmachung mit einem spöttischen
Weitere Kostenlose Bücher