Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
tot.«
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Gesicht in die gewölbten Hände und lächelte. »Ich werde dir etwas zeigen.«
»Was denn?«
»Etwas mit der Blume.«
»Nur zu!«
»Nicht jetzt.«
»Wann dann?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie.
»Hoffentlich erlebe ich das noch.«
Ihr Lächeln wurde breiter, und in ihrer Stimme lag freundschaftliche Zuneigung, als sie sagte: »Du hast einen bestimmten Charme, weißt du?«
Ich zuckte die Achseln und blickte in die Flamme, die in der roten Glaslampe zwischen uns brannte.
»Missversteh mich nicht«, sagte sie. »Ich meine … einen Charme, auf den du dich verlassen kannst.«
Wenn sie gedacht hatte, sie hätte mich mit der Blüte so abgelenkt, dass ich die Frage, der sie ausgewichen war, vergessen hatte, so irrte sie sich. Ich ließ nicht locker.
»Wenn sie dich momentan noch nicht umbringen wollen, aber bald doch, und zwar aus dem falschen Grund - was ist der richtige Grund? Ach, tut mir leid, Entschuldigung. Ich meine, was ist der bessere Grund für deinen Tod?«
»Das wirst du erfahren, wenn du es erfahren wirst«, sagte sie.
»Und wann werde ich es erfahren?«
Als sie antwortete, sagte ich mit ihr im Chor: »Alles zu seiner Zeit.«
Erstaunlicherweise hatte ich nicht den Eindruck, sie würde mir irgendwelche Informationen vorenthalten oder in Rätseln sprechen, um mich zu täuschen oder zu ködern. Sie kam mir absolut ehrlich vor.
Außerdem hatte ich das Gefühl, dass alles, was sie gesagt hatte, mehr Bedeutung besaß, als ich bisher wahrgenommen hatte. Wenn ich später einmal an dieses Gespräch zurückdachte,
wurde mir wahrscheinlich klar, dass ich schon an diesem Abend, in dieser Stunde, hätte erkennen sollen, wer sie war.
Mit beiden Händen griff Annamaria nach ihrem Teebecher und trank daraus.
Bei jemand anders hätte das Lampenlicht wohl vorteilhaft gewirkt, doch sie sah genauso aus, wie sie im grauen Licht des Spätnachmittags auf dem Pier ausgesehen hatte. Weder besonders schön noch hässlich und doch nicht einfach nur hausbacken. Zierlich und doch irgendwie kraftvoll. Aus Gründen, die ich nicht ausdrücken konnte, besaß sie eine starke Ausstrahlung, die mich weniger magnetisch anzog als demütig machte.
Mit einem Mal wurde mein Versprechen, sie zu beschützen, zu einem Gewicht auf meiner Brust.
Ich griff mit der Hand nach der Kette, die ich nun trug.
Annamaria stellte den Becher ab und betrachtete das Glöckchen, das ich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
Mir fiel ein Zitat ein: »Die Glocke mahnt …’s ist ein Grabgeläut, das mich zu Himmel oder Höll entbeut.«
»Shakespeare«, sagte sie. »Allerdings nicht ganz richtig zitiert. Außerdem braucht jemand wie du nicht daran zu zweifeln, was sein endgültiges Ziel ist.«
Wieder senkte ich den Blick auf die Öllampe. Vielleicht lag es an meiner lebhaften Fantasie, dass ich sah, wie die flackernde Flamme sich für einen winzigen Moment in das Bild eines tobenden Drachen verwandelte.
Ohne uns weiter zu unterhalten, deckten wir rasch den Tisch ab, stellten die übrig gebliebenen Sachen weg und spülten ab. Zum Abtrocknen war keine Zeit, deshalb ließen wir Teller und Tassen auf dem Ablauf stehen.
Aus dem Kleiderschrank holte Annamaria eine halblange, gerade geschnittene Jacke und zog sie an, während ich mit
einem langstieligen Löschhütchen, das sie mir gereicht hatte, die Lampe in der Küche und die auf dem Esstisch löschte.
Mit nicht mehr Gepäck als einer Handtasche ausgestattet, kam Annamaria auf mich zu.
»Du brauchst doch ganz bestimmt mehr als das«, sagte ich. »Ich habe nicht viel mehr«, sagte sie. »Ein paar Kleider, ja, aber plötzlich habe ich das Gefühl, es ist keine Zeit mehr zum Packen.«
Dieselbe Ahnung hatte mich dazu getrieben, hastig den Esstisch abzuräumen.
»Mach auch die anderen Lampen aus«, sagte sie und zog eine Taschenlampe aus der Handtasche. »Rasch!«
Ich löschte die drei verbliebenen Flammen.
Während Annamaria den Strahl der Taschenlampe über den Boden zur Tür wandern ließ, kam aus der stillen Nacht das Dröhnen eines Fahrzeugs. Es näherte sich, und so, wie es sich anhörte, handelte es sich um einen bulligen Pick-up.
Sofort schirmte sie das Licht mit der Hand ab, damit es von außen nicht sichtbar war.
Bremsen kreischten durch die Nacht, und der gerade eben noch auf Hochtouren jagende Motor brummte nur noch im Leerlauf vor sich hin - auf der Einfahrt vor der Garage, über der wir standen.
Eine Wagentür schlug
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