Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Öllampe der gespeicherte, verwandelte und schließlich befreite Sonnenschein vergangener Jahre war, aber das stimmte natürlich.
»Das Lampenlicht erinnert mich an meine Eltern«, sagte sie.
»Erzähl mir von ihnen.«
»Das würde dich bloß langweilen.«
»Versuch’s mal!«
Ein Lächeln. Ein Kopfschütteln. Sie aß weiter und sagte nichts mehr.
Sie trug dasselbe, was sie schon auf dem Pier angehabt hatte: weiße Tennisschuhe, dunkelgraue Hosen und einen weiten rosa Pullover. Nun waren die langen Ärmel hochgekrempelt, wodurch die schlanken Handgelenke sichtbar waren.
An der Silberkette glänzte das elegante silberne Glöckchen.
»Der Anhänger ist auch sehr hübsch«, sagte ich.
Sie antwortete nicht.
»Hat er irgendeine Bedeutung?«
Sie sah mir in die Augen. »Trifft das nicht auf alles zu?«
Etwas in ihrem Blick ließ mich wegschauen, und ich bekam Angst. Nicht Angst vor ihr. Angst vor … ich wusste auch nicht, wovor. Aus Gründen, die mir verborgen blieben, spürte ich hilflos, wie mir der Mut sank.
Sie holte die Teekanne aus der Küche und goss mir nach.
Als sie sich wieder gesetzt hatte, streckte ich den Arm über den Tisch und drehte die Handfläche nach oben. »Fasst du mich bitte an der Hand?«
»Du willst bestätigt haben, was du ohnehin schon weißt.«
Ich streckte einfach weiter den Arm aus.
Sie gab nach und nahm meine Hand.
Die kleine Wohnung über der Garage verschwand, und ich saß nicht mehr auf einem Stuhl aus verchromtem Stahl und Kunstleder, sondern stand an einem Strand, in blutrotes Licht getaucht. Der Himmel brannte, und im Meer stiegen geschmolzene Massen empor.
Als Annamaria meine Hand wieder losließ, zog sich der Traum zurück. Nun brannten nur noch die Lampendochte, von ihrer gläsernen Hülle gebändigt.
»Du gehörst dazu«, sagte ich.
»Nicht so, wie der große Kerl vom Pier dazugehört.«
Der war von der Vision, die von mir auf ihn übergegangen war, überrascht gewesen, doch das war Annamaria nicht.
»Dieser Mann und ich gehören zu verschiedenen Seiten«, sagte sie. »Auf welcher Seite stehst du, Odd Thomas?«
»Hast du den Traum denn auch gehabt?«
»Das ist kein Traum.«
Ich blickte in meine Handfläche, durch deren Berührung Annamaria die Vision herbeigerufen hatte.
Als ich den Blick wieder hob, waren ihre dunklen Augen älter als ihr Gesicht. Dennoch sahen sie sanft und freundlich aus.
»Was wird geschehen? Wann? Wo - etwa hier in Magic Beach? Und inwiefern gehörst du dazu?«
»Das darf ich nicht sagen.«
»Weshalb nicht?«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Was hat das denn zu bedeuten?«
Ihr Lächeln erinnerte mich an das Lächeln von irgendjemand anders, doch ich konnte mich nicht erinnern, von wem. »Es bedeutet: alles zu seiner Zeit.«
Vielleicht weil es gerade um Zeit ging, fiel mein Blick auf
die Uhr an der Küchenwand. Erstaunt verglich ich deren Angabe mit der meiner Armbanduhr.
In Wirklichkeit war es eine Minute vor sieben. Die Küchenuhr zeigte eine Minute vor Mitternacht an, eine Abweichung von ganzen fünf Stunden.
Dann sah ich, dass der schmale rote Sekundenzeiger auf der Zwölf stehengeblieben war.
»Deine Uhr funktioniert nicht.«
»Das hängt davon ab, was man von einer Uhr erwartet.«
»Die Zeit«, schlug ich vor.
Als ich den Blick von der Uhr löste und Annamaria ansah, stellte ich fest, dass sie die Silberkette geöffnet und vom Hals genommen hatte. Sie streckte mir die Hand hin, in der das Glöckchen baumelte.
»Bist du bereit, für mich zu sterben?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte ich, ohne zu zögern, und nahm die Kette entgegen.
14
Wir aßen weiter, als wären die Unterhaltung und alles andere, was in den letzten Minuten geschehen war, so normal wie an jedem beliebigen Abend.
Natürlich fragten mich nicht dauernd irgendwelche Leute, ob ich für sie sterben würde. Und ich war nicht daran gewöhnt, diese Frage ohne Zögern zu bejahen.
Für Stormy Llewellyn wäre ich durchaus gestorben, und sie hätte dasselbe für mich getan, ohne dass einer von uns es nötig gehabt hätte, die Frage zu stellen, die Annamaria gerade geäußert hatte. Auf einer Ebene, die tiefer lag als Verstand und Herz, auf der Ebene von Blut und Knochen, hatten Stormy und ich begriffen, dass wir einander verpflichtet waren, egal, was es kosten mochte.
Obwohl ich mein Leben für Stormy geopfert hätte, war das Schicksal nicht bereit gewesen, mir diesen Handel zu gestatten. Seit dem schrecklichen Tag, an dem sie starb, lebe ich ein Leben, das ich
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