Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
nicht brauche.
Versteht mich nicht falsch. Ich suche den Tod nicht. Ich liebe das Leben, und ich liebe die Welt insofern, als ihr wunderbarer Bauplan in jedem kleinen Teil des Ganzen erkennbar ist.
Die Welt an sich kann niemand wirklich lieben, denn sie ist zu groß, um als Ganzes geliebt zu werden. Wer meint, die ganze Welt zu lieben, ist entweder ein maßloser Aufschneider
oder er unterliegt einer gefährlichen Selbsttäuschung. Die Welt zu lieben wäre so, wie die reine Vorstellung von Liebe zu lieben. Gefährlich ist das, weil man dann so stolz auf dieses große Gefühl werden könnte, dass man meint, von allen Kämpfen und Pflichten befreit zu sein, die damit verbunden sind, einzelne Menschen zu lieben - und einen bestimmten Ort, an dem man zu Hause ist.
Deshalb liebe ich die Welt auf einer Ebene, auf der echte Zuneigung möglich ist, auf jener von kleinen Orten wie einer Stadt, einem Wohnviertel, einer Straße. Das Leben liebe ich ebenfalls, weil es und diese Welt so viel Schönheit zu bieten haben. Meine Zuneigung zu diesen beiden Dingen ist allerdings nicht exzessiv, und ich bringe ihnen nur so viel Ehrfurcht entgegen wie ein Architekt, der staunend und begeistert im Empfangssaal eines prächtigen Palastes steht, aber weiß, dass dies alles nichts ist, verglichen mit dem wunderbaren Anblick, der ihn jenseits der nächsten Schwelle erwartet.
Seit jenem siebzehn Monate zurückliegenden Tag, an dem Stormy in Pico Mundo getötet wurde, gehörte mein Leben nicht mehr mir. Aus einem Grund, den ich nicht begreifen konnte, war ich damals verschont worden, und ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich für die richtige Sache mein Leben gab.
Bist du bereit, für mich zu sterben?
Ja.
Sobald ich diese schicksalhafte Frage gehört hatte, spürte ich, dass ich seit Stormys Tod darauf gewartet hatte. Deshalb hatte mir die Antwort schon auf der Zunge gelegen, bevor die Frage ausgesprochen worden war.
Obwohl ich mich der Aufgabe, die sich nun stellte, verpflichtet hatte, ohne etwas darüber zu wissen, war ich doch
neugierig, was die Männer auf dem Pier vorhatten, welche Rolle Annamaria in ihren Plänen spielte und weshalb sie meinen Schutz brauchte.
Als ich mir die Silberkette um den Hals gelegt hatte und das Glöckchen am Brustbein spürte, fragte ich: »Wo ist eigentlich dein Mann?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
Dabei blieb es, wenngleich ich abwartete, ob sie noch mehr darüber sagen wollte.
Mit der Gabel drückte sie eine Feige auf den Teller, während sie mit dem Messer den Stängel abtrennte.
»Wo arbeitest du?«, fragte ich.
Sie legte das Messer weg. »Ich arbeite nicht.« Sie klopfte sich leicht auf den dicken Bauch und lächelte. »Momentan bin ich mit etwas anderem beschäftigt.«
Ich ließ den Blick durch die bescheidene Wohnung schweifen. »Wahrscheinlich zahlst du wenig Miete«, sagte ich.
»Sehr wenig. Genauer gesagt, wohne ich kostenlos hier.«
»Bist du mit den Leuten drüben im Haus verwandt?«
»Nein. Vor mir hat hier zwei Jahre lang kostenlos eine dreiköpfige Familie gewohnt, bis sie genügend Geld gespart hatte, um woanders hinzuziehen.«
»Also sind die Hausbesitzer einfach … gute Menschen?«
»Das kann dich doch nicht überraschen.«
»Vielleicht schon.«
»Du hast in deinem jungen Leben doch schon viele gute Menschen kennengelernt, oder etwa nicht?«
Ich dachte an Ozzie Boone, an Chief Wyatt Porter und seine Frau Karla, an Terri Stambaugh und all meine anderen Freunde in Pico Mundo, an die Mönche des Klosters in den Bergen, an Schwester Angela und ihre Nonnen, die dort ein Internat für behinderte Kinder leiteten.
»Selbst in dieser rohen, zynischen Zeit«, fuhr Annamaria fort, »bist du selbst weder roh noch zynisch.«
»Nimm’s mir nicht übel, Annamaria, aber du kennst mich eigentlich nicht.«
»Ich kenne dich gut«, widersprach sie.
»Woher?«
»Hab Geduld, dann wirst du es erfahren.«
»Alles zu seiner Zeit, was?«
»Genau.«
»Irgendwie hab ich den Eindruck, der richtige Zeitpunkt ist jetzt schon gekommen.«
»Damit hast du Unrecht.«
»Wie kann ich dir helfen, wenn ich nicht weiß, in welcher Patsche du steckst?«
»Ich stecke nicht in der Patsche.«
»Na schön, dann in welchem Schlamassel, in welcher Klemme, in welcher Falle?«
Offenbar hatte sie aufgegessen, denn sie tupfte sich mit ihrer Papierserviette den Mund ab.
»Weder Schlamassel noch Klemme oder Falle«, sagte sie mit leicht belustigter Stimme.
»Wie würdest du es denn sonst
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