Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
aus Alabama? Und wie steht’s mit Maine?«
»Von noch weiter her. Du würdest mir doch nicht glauben, wenn ich es dir sagen würde.«
»Klar würde ich dir glauben«, versicherte ich ihr. »Bisher habe ich dir jedenfalls alles geglaubt, obwohl ich nicht recht weiß, warum, und obwohl ich das meiste nicht kapiere.«
»Wieso glaubst du mir denn so anstandslos?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Doch, das weißt du.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Du weißt es.«
»Hilf mir mal auf die Sprünge. Wieso glaube ich dir so anstandslos?«
»Wieso glaubt man denn überhaupt etwas?«, fragte sie zurück.
»Ist das eine philosophische Frage - oder bloß ein Rätsel?«
»Ein Grund sind empirische Beweise.«
»Du meinst also … ich glaube an die Schwerkraft, weil ein Stein, den ich in die Luft werfe, auf den Boden zurückfällt.«
»Genau das meine ich.«
»Was dich angeht, so bist du mit empirischen Beweisen nicht gerade großzügig gewesen«, wandte ich ein. »Ich weiß nicht einmal, wo du herkommst. Deinen Namen kenne ich auch nicht.«
»Den kennst du wohl.«
»Nur deinen Vornamen. Wie heißt du mit Familiennamen?«
»Ich habe keinen.«
»Jeder hat einen Familiennamen.«
»Ich hatte nie einen.«
In der kühlen Nacht bildete unser Atem Wolken. Annamaria war von einer so geheimnisvollen Atmosphäre umgeben, dass mir der absurde Gedanke kam, wir hätten das ganze Nebelmeer, in dem alle Dinge versanken, selbst ausgeatmet, damit daraus eine neue Welt entstehen konnte.
»Du musst doch einen Nachnamen gehabt haben, als du zur Schule gegangen bist.«
»Ich war nie in der Schule.«
»Hat man dich zu Hause unterrichtet?«
Sie antwortete nicht.
»Ohne Nachnamen - wie schaffst du es da, Sozialhilfe zu bekommen?«
»Das Sozialamt weiß nichts von mir.«
»Aber du hast doch gesagt, dass du nicht arbeitest.«
»Das stimmt.«
»Wie - schenken dir manche Leute einfach Geld, wenn du welches brauchst?«
»Ja.«
»Nicht schlecht. So was ist wahrscheinlich nicht so stressig wie ein Job als Reifen- oder Schuhverkäufer.«
»Ich habe nie um irgendetwas gebeten … bis ich dich gefragt habe, ob du für mich sterben würdest.«
Irgendwo in dieser Welt, die sich aufgelöst hatte, war der Kirchturm von St. Joseph offenbar stehengeblieben, denn in der Ferne erklang seine vertraute Glocke. Aus zwei Gründen war das allerdings äußerst seltsam. Zum einen zeigten die Leuchtziffern meiner Uhr 7.22 an, was auch zu stimmen schien. Und zum anderen schlug die Kirchenglocke von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends zur vollen Stunde einmal und zur halben Stunde zweimal. Nun hallten drei feierliche Schläge durch den Nebel.
»Wie alt bist du, Annamaria?«
»In gewissem Sinne achtzehn.«
»Achtzehn Jahre hinter sich zu bringen, ohne jemanden um etwas zu bitten - da wusstest du offenbar, dass du dir das für eine wirklich große Bitte aufsparst.«
»Irgendwie hatte ich so eine Ahnung«, sagte sie.
Sie klang amüsiert, aber nicht so, als wollte sie mich an der Nase herumführen. Wieder spürte ich, dass sie sich direkter ausdrückte, als es den Anschein hatte.
Frustriert kehrte ich zu meinem früheren Thema zurück: »Ohne Nachnamen, wie kommst du da an eine Krankenversicherung?«
»Die brauche ich nicht.«
Ich blickte auf ihren Bauch. »In ein paar Monaten wirst du aber schon eine brauchen.«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Außerdem ist es gar nicht gut, schwanger zu sein, ohne regelmäßig zum Arzt zu gehen, weißt du?«
Sie schenkte mir ein Lächeln. »Du bist ein wirklich lieber junger Mann.«
»Es ist ein wenig komisch, wenn du mich als jungen Mann bezeichnest. Schließlich bin ich älter als du.«
»Aber ein junger Mann bist du trotzdem, und lieb auch. Wo wollen wir eigentlich hin?«
»Das ist eine sehr tiefgründige Frage.«
»Ich meine, jetzt gerade. Wo gehen wir hin?«
Nicht ohne ein gewisses Vergnügen antwortete ich ihr mit einem Zitat, das genauso mysteriös war wie alles, was sie zu mir gesagt hatte: »Ich muss mich mit einem Mann treffen, der Molchaugen und Haare wie Flaum vom Kauz hat.«
»Macbeth«, sagte sie, womit sie meinen Plan durchkreuzte.
»Ich nenne ihn den Lampenmann. Du musst nicht wissen, wieso. Das Gespräch wird wahrscheinlich riskant, deshalb kannst du nicht mitkommen.«
»Ich bin am wenigsten in Gefahr, wenn ich mit dir zusammen bin.«
»Aber ich muss schnell vorwärtskommen. Also, ich kenne
eine Frau … du wirst sie mögen. Niemand wird darauf kommen, in ihrem Haus nach dir oder mir zu
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