Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Das hört sich eher nach dem anderen Chief Shackett an.«
Er rückte auf seinem Stuhl nach vorn und verschränkte die Arme auf dem Tisch. »So glücklich ich darüber bin, stinkreich zu sein«, sagte er aufgeräumt, »habe ich doch allerhand Probleme, mein Junge.«
»Das tut mir aber leid.«
Der enttäuschte, verwundete Blick, der auf sein Gesicht trat, war so herzergreifend, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte.
»Mein größtes Problem bist du «, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, was du bist. Dieser Traum, diese Vision, die von dir auf mich und Rolf übergesprungen ist …«
»Ich weiß, Sir. Es tut mir wirklich leid. Es ist ein sehr verstörender kleiner Traum.«
»Und so überaus exakt. Du weißt zu viel, das ist eindeutig. Am liebsten würde ich dich auf der Stelle umbringen und dich irgendwo im Hekate-Canyon verscharren, wo dich jahrelang niemand findet.«
In seiner Rolle als Chief Hoss Shackett der Nette hatte er so viel Kameradschaft und Gutherzigkeit ausgestrahlt, dass die niedrige Betondecke jede Schwere verloren hatte. Nun war sie urplötzlich wieder so wuchtig geworden, dass ich ein wenig den Kopf einzog.
Auch den Geruch von Erbrochenem, der von dem Desinfektionsmittel mit Kiefernduft überdeckt wurde, nahm ich wieder wahr.
»Wenn ich mitreden dürfte, Sir, dann bin ich gegen ein Grab im Canyon.«
»Mir gefällt das auch nicht. Weil deine angeblich schwangere Freundin vielleicht darauf wartet, dass du dich meldest.«
»Angeblich schwanger?«
»Ich vermute, dass sie sich nur entsprechend ausstaffiert hat. Eine gute Tarnung. Da kommt ihr beiden in die Stadt wie Landstreicher, um die sich niemand kümmert. Du siehst aus wie einer von diesen Typen, die bloß ans Surfen denken, und sie präsentiert sich wie eine, die von zu Hause ausgerissen ist. Aber ihr arbeitet für irgendjemanden.«
»Hört sich ganz so an, als würden Sie an jemand Bestimmtes denken.«
»Vielleicht für den Heimatschutz oder für irgendeinen Geheimdienst. Die sprießen ja neuerdings wie Pilze aus dem Boden.«
»Sir, wie alt bin ich Ihrer Meinung nach?«
»Zwanzig. Wäre allerdings auch möglich, dass du jünger aussiehst und in Wirklichkeit dreiundzwanzig oder vierundzwanzig bist.«
»Ein wenig zu jung, um als Undercoveragent zu arbeiten, meinen Sie nicht?«
»Ganz im Gegenteil. Bei den Kampfschwimmern und anderen Elitetruppen sind manche auch erst zwanzig oder so.«
»Ich doch nicht! Ich habe eine Schusswaffenphobie.«
»Klar doch.«
Ich hatte mich ebenfalls vorgebeugt und auf den Tisch gestützt. Er tätschelte mir liebevoll den Arm.
»Mal angenommen, du meldest dich nicht zur verabredeten Zeit bei deiner Partnerin, dieser Annamaria, woraufhin sie eure Zentrale in Washington oder wer weiß wo informiert.«
Die Sache mit der Amnesie brachte nun nichts mehr. Es war besser, mich als eiskalten Geheimagenten darzustellen. Deshalb sagte ich nur: »Mal angenommen.«
»Im Geiste des Vertrauens, das du hoffentlich sehr zu schätzen weißt, will ich dir verraten: Der Job, durch den ich
reich geworden bin, ist morgen früh erledigt. Mein Anteil daran jedenfalls. In zwei Wochen lebe ich schon in einem anderen Land, mit einer neuen Identität, die so geheim ist, dass man mich nie aufspüren wird. Aber um wirklich gefahrlos zu verschwinden, brauche ich diese zwei Wochen.«
»In denen Sie gefährdet sind.«
»Deshalb bleiben mir, soweit ich sehe, nur drei Optionen. Erstens: Ich muss deine Annamaria ganz rasch finden, bevor sie eine Meldung absetzen kann, und euch dann beide umbringen.«
Ich sah auf meine Armbanduhr, als hätte ich tatsächlich einen bestimmten Zeitpunkt mit meiner vermeintlichen Kollegin vereinbart. »Das schaffen Sie nicht«, sagte ich.
»Habe ich mir auch gedacht. Zweite Option: Ich bringe dich jetzt an Ort und Stelle um. Wenn du dich bei deiner Partnerin nicht meldest, löst sie Alarm aus, und eure Leute kommen in die Stadt marschiert. Ich stelle mich dumm und spiele den Ahnungslosen. Habe dich nie gesehen, weiß nicht, was dir zugestoßen ist.«
»Das würde bedeuten, dass Reverend Moran mit Ihnen unter einer Decke steckt«, sagte ich. »Was ich sehr bedauern würde.«
»Keine Sorge. Du bist in seiner Kirche aufgetaucht und hast behauptet, in deinem Leben würde momentan was schieflaufen. Dann hast du angefangen, vom Weltuntergang zu reden, was ihn nervös gemacht hat. Außerdem hast du behauptet, der Hund, den du dabeihattest, würde Raphael hei ßen,
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