Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
und vergnügt. Selbst diese Augen lächelten, die Lippen und die Augen, ja das ganze Gesicht. Jedes Fältchen und Grübchen verzog sich zu einem Schauspiel vollendeten Wohlwollens.
Der vorherige Hoss Shackett hätte nie Polizeichef von Magic Beach werden können, denn auf einen solchen Posten wurde man von den Einwohnern gewählt. Vor mir saß nun Hoss Shackett, der Politiker.
Schade, dass dieses Jahr keine Wahlen waren. Sonst hätte ich mich sofort für sein Wahlkampfteam gemeldet, um Schilder aufzustellen, an den Haustüren für ihn zu werben und dabei zu helfen, sein Porträt an die Wand eines vierstöckigen Gebäudes zu pinseln.
Mr. Sinatra kam zum Tisch, um den Chief genauer zu betrachten. Er sah mich an, schüttelte verblüfft den Kopf und kehrte in seine Ecke zurück.
Chief Hoss lümmelte sich so entspannt auf seinem Stuhl, als wäre er in Gefahr, gleich auf den Boden zu rutschen. »Junge, was wünschst du dir eigentlich?«, fragte er.
»Was ich mir wünsche, Sir?«
»Vom Leben. Was wünschst du dir vom Leben?«
»Tja, Sir, ich weiß nicht recht, ob ich diese Frage korrekt beantworten kann, da ich momentan bekanntlich nicht weiß, wer ich bin.«
»Nehmen wir einmal an, du leidest unter Amnesie.«
»Aber das tue ich doch, Sir. Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mein eigenes Gesicht nicht.«
»Es ist schon dein Gesicht, das kannst du mir glauben«, versicherte er mir.
»Ich schaue in den Spiegel und sehe diesen Schauspieler … Matt Damon.«
»Du siehst aber überhaupt nicht wie Matt Damon aus.«
»Wieso sehe ich ihn dann im Spiegel?«
»Lass mich mal raten!«
»Aber gern, Sir!«
»Du hast die Filme gesehen, in denen er unter Amnesie leidet.«
»Hat Matt Damon denn in solchen Filmen mitgespielt?«
»Natürlich kannst du dich daran nicht mehr erinnern.«
»Genau«, sagte ich. »Alles vergessen.«
» Die Bourne-Identität. Das war einer davon.«
Ich dachte darüber nach. »Nein«, sagte ich schließlich. »Nichts.«
»Junge, du bist echt komisch.«
»Tja, das möchte ich schon gern sein. Aber wenn ich irgendwann herausbekomme, wer ich bin, stellt sich womöglich raus, dass ich nicht die kleinste Spur Humor habe.«
»So, so. Also, ich wollte sagen - ich bin bereit anzunehmen, dass du tatsächlich das Gedächtnis verloren hast.«
»Es wäre mir lieber, wenn es anders wäre. Aber es ist eben so.«
»Um unser kleines Gespräch zu erleichtern, akzeptiere ich deine Amnesie und werde nicht versuchen, dich aufs Glatteis zu führen. Ist das fair oder nicht?«
»Das ist fair, klar, aber außerdem verhält es sich ja auch so.«
»Na schön. Nehmen wir also an, du leidest unter Amnesie. Besser gesagt, ich weiß , dass es so ist, aber nehmen wir au ßerdem an, dass dir auf meine Fragen mehr einfällt als die Antwort, du hättest nicht die leiseste Ahnung mehr.«
»Sie fordern mich also auf, meine Fantasie spielen zu lassen?«
»So ist es.«
»Ich glaube, möglicherweise war ich jemand mit viel Fantasie.«
»Das glaubst du, ja?«
»Ist nur so eine Ahnung. Aber ich werd’s versuchen.«
Dieser neue Chief Hoss Shackett strahlte so vor Jovialität, dass ich mir womöglich einen Sonnenbrand zuzog, wenn ich zu lange in seiner Gesellschaft weilte.
»Also«, sagte er, »was wünschst du dir vom Leben, Junge?«
»Hm. Reifen verkaufen wäre ganz schön, kann ich mir vorstellen.«
»Reifen verkaufen?«
»Qualitätsware natürlich. Die Leute wieder mobil machen, nachdem das Leben ihnen einen Platten beschert hat. Das wäre sehr zufriedenstellend.«
»Gut, das verstehe ich. Aber da wir gerade bloß unsere Fantasie spielen lassen, wieso gehen wir da nicht in die Vollen?«
»In die Vollen. Okay.«
»Wenn du von was richtig Großem träumen würdest, was wäre das dann?«
»Tja, also, vielleicht … wenn ich eine eigene Eisdiele hätte.«
»Das ist das Größte, was du dir vorstellen kannst, Junge?«
»Mit meiner Freundin zusammen sein und eine Eisdiele haben, in der wir gemeinsam unser ganzes Leben lang arbeiten können. Ja, Sir, das wäre toll.«
Das war mein voller Ernst. Was für ein schönes Leben das gewesen wäre, ich und Stormy und eine Eisdiele! Mehr hätte ich gar nicht gebraucht.
Chief Shackett sah mich freundlich an. »Ja, schon klar, wenn was Kleines unterwegs ist, dann ist es gut, einen Job zu haben, auf den man sich verlassen kann.«
»Was Kleines?«, fragte ich.
»Das Baby. Schließlich ist deine Freundin schwanger.«
Fassungslosigkeit ist für mich ein natürlicher
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