Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
auch noch nie ein so großes Baby zu sehen bekommen. Ihre Mutter Dolly war kaum einen Meter fünfzig groß und zierlich, deshalb hatte der Arzt wegen Ihrer Größe erhebliche Probleme bei der Entbindung.«
Vor Ungeduld runzelte Mr. Sinatra die Stirn, wedelte wegwerfend
mit der Hand und zeigte dann auf die Stahltür. Offenbar wollte er mich davon abbringen, darüber zu schwadronieren, wie er auf die Welt gekommen war, und mir klarmachen, worauf es gerade wirklich ankam.
»Sir, ich will damit auf etwas Bestimmtes hinaus«, versprach ich ihm.
Er blickte skeptisch drein, hörte mir jedoch weiter zu.
Weil man in seiner Familie oft über die Umstände seiner Geburt gesprochen hatte, wusste er natürlich, was ich referierte: »Der Arzt hat eine Zange eingesetzt, aber nicht sehr geschickt. Deshalb waren Sie anschließend am Ohr, an der Wange und am Hals verletzt, von dem Loch im Trommelfell ganz zu schweigen. Als er Sie endlich herausgezogen hatte, atmeten Sie nicht mehr.«
Seine Großmutter hatte ihn dem Arzt weggenommen, zum Waschbecken getragen und dort unter fließend kaltes Wasser gehalten, bis er nach Luft geschnappt hatte.
»Der Arzt hätte Sie wahrscheinlich als totgeboren akzeptiert. Aber Sie sind kämpfend auf die Welt gekommen und haben eigentlich nie damit aufgehört.«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Innerhalb von fünf Minuten musste ich allerhand zustande bringen, aber Mr. Sinatras Schicksal und mein Leben hingen davon ab, dass ich es schaffte.
Weil seine Eltern beide berufstätig waren und weil seine Mutter außerdem in der Demokratischen Partei aktiv war und viele weitere Interessen hatte, war der junge Frank ein Schlüsselkind, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden war. Schon als Sechsjähriger machte er sich oft selbst sein Abendessen - und musste sich die Zutaten manchmal erst irgendwie beschaffen, weil seine Mutter keine Zeit gehabt hatte, einkaufen zu gehen.
Da er einsam war, gelegentlich sogar sehr, trieb es ihn in die Wohnungen von Freunden und Verwandten. Er galt als ausgesprochen stilles Kind, das sich damit begnügte, in der Ecke zu sitzen und dem Gespräch der Erwachsenen zuzuhören.
»Später, als Jugendlicher, mussten Sie damit umgehen, dass Ihre Mutter mehr Einfluss auf Ihr Leben genommen hat als früher. Dabei war sie immer sehr fordernd. Sie hat hohe Maßstäbe angelegt und hatte eine dominante Persönlichkeit.«
Seiner Hoffnung auf eine Karriere als Musiker stand sie äußerst skeptisch gegenüber. Ganz überzeugt war sie selbst dann noch nicht, als er schon zum berühmtesten Sänger der Welt geworden war.
»Aber, Sir, bei Ihnen verhält es sich nicht wie bei Elvis. Sie bleiben nicht hier, weil Sie sich davor scheuen, in der nächsten Welt Ihrer Mutter zu begegnen.«
Ein kämpferischer Ausdruck verhärtete seine Miene, als wollte er mir, Geist oder nicht, eins auf die Nase geben, weil ich überhaupt in Betracht gezogen hatte, seine geliebte Mutter könnte der Grund für sein Dableiben sein.
»Ihre Mutter war manchmal nervig, streitsüchtig und rechthaberisch, aber immer liebevoll. Deshalb haben Sie erkannt, dass Sie sich später so gut wehren konnten, weil Sie beim Streiten mit Ihrer Mutter lernen mussten, sich zu behaupten.«
Mr. Sinatra warf einen Blick zur Tür und deutete mit einer Geste an, ich solle mich beeilen.
»Sir, wenn ich hier heute Abend sterben sollte, werde ich Ihnen wenigstens helfen, aus dieser Welt weiterzuziehen, bevor ich sie selbst verlasse.«
Das war tatsächlich mit ein Grund für diesen aufrichtigen Monolog. Es gab jedoch noch einen anderen.
Obwohl der eiserne Wille von Dolly - so nannte sich Mrs. Sinatra - zu allerhand Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn führte, respektierte dieser sie und kümmerte sich immer gut um sie. Im Gegensatz zur Mutter von Elvis wurde Dolly ziemlich alt. Als sie starb, war er schon einundsechzig und hatte keinen Grund, irgendetwas zu bereuen.
Seinen gutmütigen Vater Marty, der acht Jahre vor Dolly starb, hatte er immer sehr geliebt. Schon das hätte ihn eigentlich dazu bringen sollen, rasch ins nächste Leben einzugehen.
»Nichts für ungut, Sir, aber manchmal waren Sie ein echter Bastard, hitzköpfig und sogar gemein. Ich habe allerdings genug über Sie gelesen, um zu wissen, dass diese Mängel durch Ihre Loyalität und Großzügigkeit mehr als aufgewogen wurden.«
Bei Krankheiten und in schweren Zeiten kümmerte er sich um seine Freunde, nicht nur, indem er ihnen ungefragt beträchtliche
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