Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Geldsummen schickte, sondern auch, indem er sie über Wochen hinweg täglich anrief, um sie aufzubauen. Manchmal half er selbst völlig fremden Menschen mit einem großzügigen Geschenk dabei, ein neues Leben anzufangen.
Über solche Dinge sprach er nie und war verlegen, wenn seine Freunde berichteten, was er getan hatte. Viele dieser Geschichten wurden erst nach seinem Tod bekannt.
»Was immer uns jenseits dieser Welt erwartet, Sir, es ist nichts, was Sie zu fürchten brauchten. Dennoch fürchten Sie es, und ich glaube, ich weiß auch, warum.«
Die Behauptung, er hätte vor irgendetwas Angst, ärgerte ihn sichtlich.
Da nur noch wenig Zeit blieb, bis Hoss Shackett zurückkehrte, fasste ich rasch alles noch einmal zusammen: »Bei der Geburt fast gestorben. Aufgewachsen in einer üblen Gegend, wo man Sie als Spaghettifresser beschimpft hat. Schon auf
dem Heimweg von der Grundschule mussten Sie sich prügeln, um sich zu behaupten. Das ganze Leben war ein Kampf. Dennoch, Sir, haben Sie alles erreicht - Reichtum, Ruhm, Anerkennung, mehr als jeder Entertainer vor Ihnen. Was Sie jetzt auf dieser Welt festhält, ist Stolz !«
Darüber ärgerte Mr. Sinatra sich noch mehr. Er hob eine Augenbraue und drückte mit einer wegwerfenden Geste aus: Was soll an Stolz denn wohl verkehrt sein?
»Wenn dieser Stolz auf Leistungen beruht, dann ist nichts verkehrt daran, und Sie haben in Ihrem Leben wirklich viel geleistet. Aber gelegentlich verwandelt berechtigter Stolz sich in Arroganz.«
Mit zusammengepressten Lippen starrte er mich an. Dann nickte er jedoch. Er wusste, dass er im Leben manchmal arrogant gewesen war.
»Über damals rede ich nicht, sondern über heute. Offenbar wollen Sie nicht in die nächste Welt weiterziehen, weil Sie fürchten, dort nichts Besonderes mehr zu sein, sondern dasselbe wie alle anderen.«
Obwohl er sich gegen diese letzte Reise wehrte, wollte er sie eigentlich unternehmen, denn das tun alle zögerlichen Toten. Deshalb dachte er über meine Worte ernsthaft nach.
Aus diesem höflichen Nachdenken musste ich eine starke emotionale Reaktion machen. Dass ich so etwas mit ihm anstellte, tat mir zwar leid, aber seine Seele und mein Hals standen auf dem Spiel. Da waren selbst extreme Maßnahmen gerechtfertigt.
»Es ist sogar noch schlimmer. Sie fürchten sich vor der Reise, weil Sie meinen, Sie müssen dort wieder ganz von vorne anfangen. Weil Sie nichts haben und ein Niemand sind, und weil der ganze Kampf wieder von vorne losgeht. Davor haben Sie Angst wie ein kleiner Junge.«
Sein Gesicht verzog sich zu einer gekränkten Grimasse.
»Ihr erster Atemzug war Kampf. Wird sich das wiederholen? Um sich Respekt zu verschaffen, mussten Sie kämpfen. Die Vorstellung, ein Niemand zu sein, passt Ihnen genauso wenig wie die Aussicht, sich bis an die Spitze vorkämpfen zu müssen wie das letzte Mal.«
Er hob die geballten Fäuste.
»Los, drohen Sie mir nur Schläge an. Schließlich wissen Sie, dass ich einem Geist nicht wehtun kann. Da braucht es nicht viel Mut, mich zu bedrohen, oder?«
Er erhob sich von seinem Stuhl und starrte finster auf mich herab.
»Sie wollen dort den ganzen Respekt genießen, den Sie auf dieser Welt genossen haben, aber Ihnen fehlt der Mumm, ihn sich wieder zu erringen, falls das da drüben nötig sein sollte.«
Nie hätte ich gedacht, dass diese warmen blauen Augen zu einem derart eisigen Starren fähig waren.
»Wissen Sie, wozu Sie im Tod geworden sind? Sie sind jetzt ein ängstlicher kleiner Versager geworden, der Sie im Leben nie waren.«
Vor Wut ballte er weiterhin die Fäuste, ließ sie jedoch sinken und wandte sich von mir ab.
»Mit der Wahrheit können Sie wohl nicht umgehen, was?«
Ihn so respektlos zu behandeln, wo ich ihm doch in Wahrheit viel Respekt entgegenbrachte, war schwierig. Vor allem musste ich mich anstrengen, ihn nicht mit Sir anzureden wie gewohnt, denn sonst wäre er mir auf die Schliche gekommen.
Bei alldem war ich tatsächlich davon überzeugt, den Grund herausgefunden zu haben, weshalb er auf dieser Welt geblieben war, aber ich verachtete ihn deshalb nicht. Normalerweise
hätte ich ihn behutsam dazu gebracht, die Wahrheit zu akzeptieren und zu erkennen, dass seine Ängste grundlos waren.
Da jeden Augenblick Hoss Shackett durch die Tür kommen würde, sagte ich in vernichtendem Tonfall: »Der Mann, den alle als Frankieboy liebten, Ol’ Blue Eyes, The Voice, der weltberühmte Sänger, der Chef des Rat Pack … und nun sind Sie bloß noch ein feiger
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