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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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zu erreichen, musste er an der Bar vorbei, er steuerte geradewegs auf uns zu.
    Max tat einen Schritt zu Seite. »Wohin des Wegs, Hassan?«, fragte er und packte ihn am Arm. In der Hand des Mannes baumelte eine mattschwarze DKNY -Handtasche.
    Max’ Knie schnellte in die Höhe. Erst dachte ich, er wollte ihn im Schritt treffen, doch Max hatte ihn am Haar gepackt und seinen Kopf mit aller Kraft nach unten gezogen.
    Das Knie traf den Mann zwischen Nase und Oberlippe. Ein dumpfes Knacken ertönte, wie von brechenden Zweigen oder eher noch von Geschirr, das im Nebenzimmer in Scherben geht. Blut spritzte in dicken Tropfen auf den zartrosa Teppichboden.
    Der Mann griff sich ins Gesicht und starrte auf seine blutigen Finger, die Tasche fiel zu Boden. Max bückte sich nach ihr. »Du kannst froh sein, dass ich nicht diskriminiere«, sagte er. »In deinem Land hätte ich dir die Hand abgehackt.«
    Er drehte sich zu uns um und zündete sich die Zigarette an, die er immer noch zwischen den Fingern hielt; er winkte der Frau, die ihren Platz an der Treppe verließ und sich einen Weg zu uns bahnte.

    Max schaute sich noch einmal nach dem Mann um, der mit dem Ärmel seines Shirts das Blut zu stillen versuchte. »Was stehst du hier noch rum? Geh und wasch dir das Gesicht, du Ferkel!«
    Die Leute im Foyer hatten den Vorfall wie versteinert verfolgt. Manche hatten den Blick abgewandt, als das Blut spritzte, vereinzelt hatte auch jemand einen Schrei des Abscheus ausgestoßen, aber als der blutende Mann zum Ausgang humpelte, war von allen Seiten vor allem beifälliges Gemurmel zu hören.
    »Sie werden immer frecher«, sagte ein Mann in einer blauen Windjacke und einem Fläschchen Chocomel in der Hand.
    »Wenn man nicht mal mehr im Kino sicher ist …«, hörte ich eine Frau hinter mir sagen.
    Ich hatte allerdings nur Augen für die Frau, die sich uns näherte. Sie hatte das Haar hochgesteckt, wodurch ihr außerordentlich langer Hals gut zur Geltung kam. Ihre ganze Gestalt war übrigens von außergewöhnlicher Länge. Während sie sich durch die Leute im Foyer drängelte, geriet ihr Kopf keinen Moment aus dem Blickfeld.
    Sie hatte ein schmales, klassisch schönes Gesicht, aber sie erinnerte mich vor allem an ein Tier, das mit dem Kopf das Gras der Savanne überragt; nicht unbedingt ein Raubtier, eine Giraffe vielleicht oder ein Okapi.
    »Alles in Ordnung, mein Schatz?«, fragte Max. Er reichte ihr die Tasche.
    Als sie sich küssten, musste die Frau sich bücken, das heißt, sie ging ein wenig in die Knie und beugte den Kopf hinunter. »Das ist Sylvia«, sagte Max. »Sylvia, das ist … das ist ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Wir sind zusammen in die Schule gegangen.«
    Ich ergriff ihre ausgestreckte Hand. »Fred«, sagte ich.
    Dann schauten alle Christine an.
     
    »Christine«, sagte meine Frau und schüttelte beiden die Hand.
    Es fiel mir schwer, Max’ Frau nicht anzustarren. Mich beschäftigte nur eine Frage: Wieso hat Max so eine große Frau?
    »So«, sagte Sylvia. »Und wie lange kennt ihr euch schon?«
    Max und ich sahen einander an.
    »Seit 1970«, sagte ich. »1972 haben wir … habe ich Abitur gemacht. Danach haben wir uns eigentlich …«
    »Er hat immer schon ein fabelhaftes Gedächtnis gehabt«, unterbrach Max mich lachend. »In welchem Jahr wurde die erste V1 abgeschossen, und wie hieß der deutsche General, der 1940 die französischen Stellungen quer durch die Ardennen im Rücken angriff? Frag Fred und er weiß die Antwort.«
    Alle lachten; Christine nickte heftig.
    »Und?«, fragte Sylvia.
    Sie sah mich zum ersten Mal länger an als nötig. Wieder musste ich an ein Tier in der Savanne denken, das unter der brennenden afrikanischen Sonne vor sich hin döst; und wenn die Nacht hereinbricht, liegt es immer noch da.
    »Und was?«
    »Wie heißt der deutsche General, der … na ja und so weiter?«
    In dem Moment läutete der Gong, die Pause war vorbei.
    »Student«, sagte ich. »Kurt Student. Die französischen und englischen Truppen waren völlig überrumpelt, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass die Deutschen mit ihren schweren Panzerdivisionen auf den schmalen, kurvenreichen Straßen durch die Ardennen fahren würden.«
    Max warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Student!«, rief er. »Jetzt erinnere ich mich! Student! Ein Name, den man nie mehr vergisst. Aber ich vergesse ihn doch und er nicht.« Und, an seine Frau gewandt: »Habe ich zu viel versprochen?«

    Ich sah Sylvia immer noch an; bildete

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