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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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war.«
    Ich betrachtete das griesgrämige und wehleidige Gesicht meines Schwagers, der immer so dreinblickte, als hätte man ihm vor langer Zeit ein großes Unrecht angetan, für dessen Wiedergutmachung das Geld immer noch nicht überwiesen worden ist, und fragte mich, was dieses Gesicht eigentlich dazu berechtigte, von einer chilenischen Putzfrau aus Santiago de Chile zu erwarten, dass sie ständig hinter ihm herräumt.
    »Unsere kommt aus Sri Lanka«, sagte Hugo Landgraaf, der ein paar Häuser weiter wohnte. »Spricht kein Wort Holländisch, aber ist schrecklich nett. Auch ganz hübsch eigentlich.«

    »Eine Tamilin«, sagte Peter Bruggink, der allein lebte und keine Putzfrau hatte; Peter kannte ich noch aus der Zeit, als man sich vor allem über den unermesslichen Abstand zwischen den Sternen unterhielt.
    »Wisst ihr, was ich am schlimmsten finde?«, sagte mein Schwager. »Diese Gabriela lebt jetzt, haltet euch fest, seit acht Jahren hier. Zuerst hat sie irgend so einen Antillianer geheiratet, nur wegen der Papiere, wenn ihr mich fragt, na ja, jedenfalls war er schwul. Acht Jahre! Und noch immer spricht sie so ein beklopptes Deppenholländisch. Bei jedem Wort zerbricht man sich den Kopf, was um Himmels willen sie bloß meint. Es macht einen ganz verrückt. Erst recht am Telefon, da kann man ja nicht Lippenlesen. Also gebe ich den Hörer immer Yvonne, ich bringe einfach die Geduld nicht mehr auf. Von mir aus setzen sie sie heute noch in ein Flugzeug nach Chile, auf Nimmerwiedersehen, aber Yvonne meint, sie sei arm dran. Arm dran! Was soll man darauf sagen?«
    Ich nahm mein Glas Moskovskaya vom Klavier und trank einen ordentlichen Schluck. Es war mein sechstes (oder siebtes?) Glas, und ich war jetzt an einer Grenze angelangt: der Grenze zwischen zu viel und wirklich viel zu viel – die Art Zuviel, die mit gewissen Persönlichkeitsveränderungen einhergeht, die dazu führen, dass man sich am nächsten Tag bei anderen erkundigen muss, was man alles so getan und gesagt hat.
    Es gab einmal eine Zeit, da brauchte ich die Gläser nicht zu zählen, aber seit drei Jahren machte ich das. Wo die Grenze lag, hing von verschiedenen Faktoren ab – was ich gegessen, ob ich verschiedene Alkoholika durcheinandergetrunken, wie spät ich angefangen hatte – aber die Grenze lag irgendwo zwischen sechs und zehn. Danach war alles egal; nach diesem Glas, fiel mir ein, brauchte ich nicht mehr zu zählen, ich leerte es in einem Zug.

    »Unsere ist nicht arm dran«, sagte Hugo. »Sie hat etwas Zerbrechliches, aber arm dran … nein, das würde ich nicht sagen.«
    Ich ließ meinen Blick über die im Wohnzimmer versammelten Gäste schweifen. An der offenen Balkontür unterhielt sich Christine mit Erik Mencken. An der Art und Weise, wie sie ihre Zigarette hielt und ihre dunkelbraunen Haare alle paar Sekunden zurückwarf, sah ich sofort, dass sie sich gehörig ins Zeug legte. Mencken hielt sein Glas Mineralwasser auf Gürtelhöhe und nickte ab und zu. Er war Moderator einer populären Quizsendung und genau genommen der einzige Freund oder besser gesagt Bekannte mit Ansehen in unserem heutigen Freundes-und Bekanntenkreis.
    Was meine übrigen Freunde und Bekannten betraf, fiel es mir immer ziemlich schwer zu behalten, was sie eigentlich genau machten, geschweige dass ich dafür auch nur das geringste Interesse aufbringen konnte. So war Hugo Landgraaf beim städtischen Verkehrsbetrieb angestellt, aber woraus seine Arbeit bestand … Ich erinnerte mich an einen betrunkenen Abend auf der Terrasse der Kneipe Elsa am Middenweg, als Hugo plötzlich von den vielen Missständen in seiner Abteilung anfing, wer den bevorstehenden »strukturellen Veränderungen« im Verwaltungsapparat gewachsen sei und wer nicht. Er redete von »Verlagerung der Verantwortlichkeiten« und »Stellen auf der Kippe«, die neu »eingestuft« werden müssten – mein Blick wurde schon bald glasig, so glasig, dass ich Hugo nicht mehr anzusehen wagte. Aber es musste ihm doch aufgefallen sein, denn seit jenem Abend hat er nie mehr von solchen Dingen angefangen.
    Peter Bruggink bezeichnete sich schon seit Jahren als Fotograf; was er fotografierte, blieb allerdings sein Geheimnis. Ich hatte noch nie eine Zeitschrift oder auch nur einen Prospekt zu Gesicht bekommen, in dem ein Foto von ihm abgedruckt war. Eines Nachmittags sah ich ihn zufällig imSupermarkt, wie er auffallend lange eine Packung Staubsaugerbeutel hin und her drehte, er betrachtete sie nicht, wie man normalerweise

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