Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
Vom Netzwerk:
war, und ging dann wieder zur Beethovenstraat zurück.
    Im Bistro Delcavi trank ich einen Kaffee und starrte geraume Zeit auf die Titelseite des Telegraaf. Ab und zu schaute ich nach draußen, während ich in meinem schon umgerührten Kaffee rührte. Eine Tram der Linie 24 hielt an der Haltestelle und fuhr wieder weiter. Zwei Frauen mit Einkaufstaschen von Maison de Bonneterie waren am Bordstein in ein Gespräch vertieft; ein unterernährter, jedenfalls viel zu magerer Rassehund hob das Hinterbein und pisste über einen Müllsack. Ich zahlte und ging.
    Als ich um die Ecke der Gerrit van der Veenstraat bog, sah ich sofort, dass die Vorhänge nicht mehr geschlossen waren. Ich wollte gerade bei einem Baum Posten beziehen, als sich die Tür öffnete und Sylvia G. herauskam; sie war noch genauso lang wie in meiner Erinnerung. Hinter ihr erschien ein kleines Mädchen. Sylvia nahm es an die Hand und bog rechts in die Gerrit van der Veenstraat ein.
    Ich folgte in einigem Abstand auf meiner Straßenseite; das Mädchen hüpfte an Sylvias Hand und machte ab und zu einen Luftsprung. An der Beethovenstraat bogen sie wieder rechts ab, vorbei an dem AKO -Buchladen Richtung Stadionweg. Ich achtete darauf, dass mindestens fünfzig Meter zwischen uns waren. Vor einem Spielwarenladen blieben sie stehen; das Mädchen zeigte auf etwas, und Sylvia nickte. Im Geschäft hinter mir trugen die Schaufensterpuppen dunkle Maßanzüge von Hugo Boss. Ich schlug den Telegraaf auf und hielt ihn mir halb vors Gesicht. Sylvia wollte das Mädchen weiterziehen, aber es sträubte sich hartnäckig.
    Nachdem sie im Laden verschwunden waren, überquerte ich die Straße. Als ich an dem Geschäft vorbeiging, stand Sylvia mit dem Rücken zu mir am Ladentisch. Das Mädchen war nirgendwo zu sehen.
     
    Ich ging etwa hundert Meter weiter und blieb vor einer Konditorei stehen. Bisher hatte ich mir Max G. immer kinderlos vorgestellt: eine Familie und Kinder waren nicht das Erste, woran man dachte, wenn man Max in seinem schwarzen Hemd sah, wie er sich eine Marlboro ansteckte, oder wenn er in seinem Mercedes mit offenem Verdeck telefonierte, den Richard H. mit zweihundertzehn Sachen die zweispurige Straße am Nordseekanal entlang steuerte.
    Als Sylvia mit dem Mädchen wieder nach draußen kam, schlenderte ich ihnen entgegen, den Telegraaf unterm Arm. Das Mädchen hatte etwas in der Hand, als ich näher kam, sah ich, dass es ein Jo-Jo war.
    »Sylvia …«, sagte ich und blieb stehen. Dafür, dass ich das Lächeln schon ein paar Meter vorher auf meinem Gesicht angebracht hatte, klang es ziemlich echt, genauso angenehm überrascht wie bei einer zufälligen Begegnung.
    Sylvia hielt den Kopf etwas schräg und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
    »Fred«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen. »Freund von Max.«
    Es war evident, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, wer ich war, aber sie drückte mir die Hand. » Deep Impact«, sagte ich. »Calypso. Jemand wollte dir deine Tasche klauen …«
    »Augenblick, Sharon«, sagte sie zu dem Mädchen, das an ihrem Arm zog. »Ich unterhalte mich gerade mit dem Herrn hier.«
    Sie lächelte. »Kurt Student.«
    »Pardon?«
    »Kurt Student. So hieß der deutsche General, der um die Ardennen herummarschiert ist, um die französischen Truppen von hinten anzugreifen.«
    Diesmal lächelte ich. Kurt Student war nicht um die Ardennen herummarschiert, sondern mitten hindurch, deshalb war der Angriff ja so gewagt und überraschend gewesen. Sylvias und meine Augen befanden sich auf gleicher Höhe; sie brauchte nicht herabzuschauen, wie bei Max, und ich nicht hinauf. Es ist sowieso ermüdend, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der größer ist, aber bei zu großen Frauen kommt noch etwas hinzu: eine geteilte Unbehaglichkeit, als wäre die Körpergröße der Frau eine Brandwunde oder eine Narbe, die man krampfhaft zu übersehen versucht.
    »Genau«, sagte ich. »Lustig, dass du das noch weißt.«
    »Ich habe auch so ein Elefantengedächtnis«, sagte Sylvia. »Max zieht mich oft damit auf. Vor allem wenn Leute dabei sind. Dann sagt er: ›Sylvia, wie heißen die Kinder und die Enkelkinder von dem und der noch gleich, und wann haben sie Geburtstag?‹ Und dann muss ich sie alle aufzählen. Ich weiß es auch wirklich, wir haben zu Hause keinen Geburtstagskalender. Der Geburtstagskalender bin ich. Als Max im Kino von dem deutschen General anfing, dachte ich sofort: ein Leidensgenosse!«
    Ich lachte. Das Mädchen hatte die

Weitere Kostenlose Bücher