Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
Vom Netzwerk:
verabredet. Ganz in der Nähe. Komm doch dazu, Max würde es bestimmt nett finden.«
    »Aber ihr wollt doch bestimmt lieber …« Sylvia unterbrach mich.
    »Bei Delcavi«, sagte sie. »Kennst du das?«
    Ich schüttelte den Kopf, worauf sie mir den Weg beschrieb.
     
    Als ich siebzehn Minuten später zum zweiten Mal an diesem Morgen das Bistro Delcavi betrat, waren Max und Sylvia noch nicht da. Ich überlegte, ob ich noch einmal um den Häuserblock gehen sollte, aber entschied mich dagegen; ich musste dringend aufs Klo.
    Im Bistro war mehr los als bei meinem ersten Besuch, nur hinten an der Bar waren noch zwei Hocker unbesetzt. Auf dem Weg zur Toilette musste ich mich zwischen diesen Hockern und einem mit Mänteln und Jacken voll behängten Garderobenständer hindurchzwängen.
    Da, wo die Bar einen 45-Grad-Winkel bildete, saß ein alter Mann in einem dunkelbraunen Jackett und aß ein Sandwich. Etwas an seiner gebeugten Haltung und an seinen Bewegungen ließ mich stutzen. Bevor ich die Toilettentür hinter mir schloss, sah ich mich noch einmal um. Das Gesicht des Mannes war nur halb zu sehen, aber ein Irrtum war ausgeschlossen.
    Als ich meinen Hosenschlitz öffnete und die Klobrille hochklappte, spürte ich, wie meine Wangen zu glühen begannen. Als ich mir anschließend die Hände wusch, sah ich im Spiegel über dem Waschbecken zwei rote Flecken direkt unter meinen Augen. Und ich sah ein Grinsen um meinenMund. »So«, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild, während ich die Hände abtrocknete; und kurz bevor ich die Toilettentür öffnete, sagte ich es noch einmal: »So.«
    Ich setzte mich auf einen freien Hocker und winkte dem Mädchen hinter der Bar. »Ein Bier, bitte.«
    Der alte Mann hatte sein Sandwich – mit Frikadelle, wie ich sah – fast aufgegessen. Er beugte sich tief über den Teller, um den Abstand zum Mund möglichst gering zu halten. Das Brot festzuhalten, bereitete ihm offenbar große Mühe. Eine Art Schmatzer entfuhr dem Weißbrot, als die grapschenden Finger es endlich im Griff hatten.
    Dazwischen waren noch andere Geräusche zu hören, die vom Mund des Mannes ausgingen. Seine Zunge suchte nach etwas, sie fuhr erst innen über die Schneidezähne und verschwand dann nach hinten, um die Backenzähne abzutasten. Der Mund öffnete sich weiter, und die Lippen stülpten sich über den Rest der Frikadelle und das durchweichte Brot.
    Eigentlich achtete ich jetzt nur noch auf die Finger, die im Schein der braunen Korblampen, die über der Bar hingen, feucht glänzten, und speziell auf die bis auf die Säume abgenagten Fingernägel, an denen noch Senfreste klebten. Diese Fingernägel waren der endgültige Beweis dafür, dass ich mich nicht geirrt hatte. Ich dachte an die gut fünfundzwanzig Jahre, in denen ich Biervoort nicht gesehen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte in diesen fünfundzwanzig Jahren keine Unterbrechung im Nagelkauen stattgefunden: In der ganzen Zeit hatten die Zähne des Französischlehrers immer wieder aufs Neue und mit immer weniger Erfolg verzweifelt nach Nachschub gesucht.
    Und ich dachte jetzt auch an seine Frau. Lebte sie noch? Und wenn ja, kniff sie Biervoort noch immer durch den Pyjamastoff in seinen Pimmel? Grunzte sie noch immer wie ein Schwein und hatte sie noch dasselbe kurze Borstenhaar?
    Ich ächzte leise, und in dem Moment hob Biervoort denKopf. Nichts in seinen wässrigen Augen hinter den dicken Brillengläsern deutete darauf hin, dass er mich erkannte.
    Das Weiß in seinen Augen war vergilbt wie altes Zeitungspapier, und plötzlich war ich mir sicher, dass seine Frau tot war; wahrscheinlich war sie an etwas erstickt oder an einem regnerischen Morgen einfach auf ihrem Stuhl am Frühstückstisch tot sitzen geblieben. Zwischen den Brotkrümeln und den Schalen eines gerade gepellten Eis war ihr Kaffee allmählich kalt geworden. Jedenfalls war Biervoort jetzt ganz allein auf der Welt, niemand kniff ihm mehr in seine Pyjamahose.
    »Fred!« Es kam von der anderen Seite des Bistros und klang, als hätte jemand meinen Namen nicht zum ersten Mal gerufen. Bei einem unbesetzten Tisch am Eingang stand Max und winkte.
    »Und Sylvia?«, fragte ich, nachdem wir uns gesetzt hatten. Max trug einen weißen Sport-Sweater mit Kapuze, auf der Brust stand in grauen Lettern der Markenname RUSSELL ATHLETIC . Er rieb sich die Hände und nahm die Speisekarte.
    »Sie muss noch Einkäufe machen«, sagte er.
    Am liebsten hätte ich ihm gleich von der Anwesenheit unseres ehemaligen

Weitere Kostenlose Bücher