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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Schnur ihres Jo-Jos vollkommen verheddert. Mir fiel auf, dass ich ihren Namen schon wieder vergessen hatte. Das ist die Schattenseite eines guten Gedächtnisses: Es funktioniert bei Sachen, die lange zurückliegen, aber es versagt bei allem, was gerade passiert ist. Wenn jemand mir die Hand schüttelt und sich vorstellt, habe ich seinen Namen schon vergessen, wenn unsere Hände sich wieder lösen. Es hat auch mit Interesse zu tun, das habe ich mal gelesen: Die Kunst eines gutes Gedächtnisses besteht darin, alles Unwichtige schnell vergessen zu können. So bleibt Platz für Dinge, die einem wirklich wichtig sind. Und welche Bedeutung hat im größeren Zusammenhang von Menschen und Ereignissen – von Leben und Tod – schon der Name eines Menschen?
    Ich ging vor dem Mädchen in die Hocke.

    »Lass mal sehen.«
    Sie fuhr erschreckt zurück, als hätte sie Angst, ich könnte ihr das Jo-Jo wegnehmen.
    »Sei nicht albern, Sharon!«, sagte Sylvia. »Der Herr will dir doch nur helfen. Kannst du denn auch nie mit etwas spielen, ohne es gleich kaputt zu machen?«
    »Warte mal, Sharon«, sagte ich. Das eine Ende der Schnur war um Sharons Mittelfinger gewickelt, am anderen baumelte das Jo-Jo. Ein Handy klingelte. Sylvia kramte in ihrer Tasche.
    »In der Beethovenstraat«, hörte ich ihre Stimme über mir, während ich den Knoten entwirrte. »In einer Viertelstunde … Oder meinst du eigentlich in einer halben Stunde …? Okay … Bis gleich.«
    Ich nahm die Hand des Mädchens ( Sharon …! Sharon …! Sharon! ) und zeigte ihr, wie man das Jo-Jo auf-und abwärtsbewegt, ohne dass sich die Schnur verheddert. Nach dem Ton ihrer Stimme zu urteilen, hatte Sylvia mit Max gesprochen, aber offenbar nicht sehr lange. So hatte sie beispielsweise nicht gesagt: »Rate mal, mit wem ich hier stehe?« Ich holte tief Luft und wusste auf einmal nicht mehr, wie es weitergehen sollte.
    »Er war noch in der Dusche«, sagte Sylvia und steckte das Handy wieder ein. Es war unklar, ob sie es zu mir oder zu ihrer Tochter sagte. Sie sah auf die Uhr. »Shit, ich muss zur Bank. Komm, Sharon, verabschiede dich von dem Herrn und sag auch schön Danke.«
    Ich grinste breit und machte eine Handbewegung, die besagen sollte, Dank für so eine kleine Gefälligkeit sei gänzlich überflüssig. Aber andererseits bedeutete es ja vielleicht doch etwas. Es bedeutete vielleicht, dass in der Welt nichts verloren geht, dass man für alles etwas zurückbekommt, sogar für das Lösen eines Knotens aus einer Jo-Jo-Schnur. Der Augenblick war gekommen, da ich etwas sagen musste, etwaswie »Nun, dann geh ich mal wieder« – aber ich sagte kein Wort. Ich sah Sylvia nur an und schlug dann die Augen nieder und ließ meinen Blick über die Gehwegplatten schweifen, als könnte man mir sonst meine Trennungsangst allzu sehr ansehen.
    Sylvia hatte sich schon halb zum Gehen gewandt. Mir fiel auf, dass sie hohe Absätze trug. Sie war ja schon groß genug (zu groß, würden manche sagen), aber es machte ihr anscheinend nichts aus, noch ein paar Zentimeter hinzuzufügen. Plötzlich zögerte sie.
    »Wohnst du hier in der Gegend?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte hier zu tun«, sagte ich und zeigte hinter mich. »Beruflich.«
    Und dann fragte sie, was ich mache. Und ich sagte es ihr.
    »Dann musst du nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern auch eine Engelsgeduld haben.«
    Sie lächelte. Mit einem lauten Knall schlug das Jo-Jo auf den Boden auf und zersprang in zwei Teile, eine Hälfte rollte zur Bordsteinkante.
    »Mama!«
    Ich machte einen Schritt zur Seite und brachte das Ding gerade noch rechtzeitig unter meiner Schuhsohle zum Stehen, bevor es unter einem geparkten Auto verschwand. Ich ging in die Hocke. »Nichts passiert«, sagte ich. »Das kriegen wir schon wieder hin.«
    Manchmal gelingt etwas auf Anhieb, und fast immer dann, wenn man gar nicht mehr damit rechnet. Man kann Geschicklichkeit vortäuschen, aber wenn man es mit Überzeugung tut, gehorchen einem die Dinge sogar. Mit ein paar Griffen hatte ich das Jo-Jo wieder zusammengesetzt, die Schnur war dort, wo sie hingehörte, ich machte eine neue Schlaufe ans Ende und schob sie dem noch schniefenden Mädchen über den Mittelfinger. Ich fühlte mich wie der nette Onkel im Bilderbuch, wenn auch in einem, dessen Bilder nicht die ganze Geschichte erzählen. Sylvia seufzte tief und schaute wieder auf die Uhr.
    »Weißt du, ich muss jetzt wirklich zur Bank. Aber wenn du Lust hast, ich habe mich in einer Viertelstunde mit Max

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