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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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war jedenfalls etwas sehr Amerikanisches, aus einer Gegend der USA , wo staubige Straßen ins Unendliche führen und Steppenläufer träge über den Asphalt rollen. Ich dachte an die Gebärde, mit der sie sich während des Essens ihr dünnes Flachshaar hinters Ohr gesteckt hatte; ich dachte an ihr liebes Gesicht und ihre ebenso liebe Stimme, mit der sie nicht aufhörte, mich zu siezen, obwohl ich ihr immer wieder sagte, sie solle doch einfach Fred sagen. Ich dachte an den Moment, an dem die Liebe anfängt, und an den, an dem sie endet.
    »Ich kann also auf dich zählen?«, fragte Christine, nachdem David gegangen war.
    »Ich schaue mal, wie ich mich heute Abend fühle«, sagte ich – aber etwas in meiner Stimme sollte ihr deutlich machen, dass ich mich heute Abend gut genug fühlen würde. Ich hatte plötzlich Lust, sie an mich zu ziehen. Weil ich getröstet werden wollte. Oder um, wenn das nicht möglich war, sie zu trösten. »Nur ruhig«, würde ich sagen, ihr meine Hand auf die Wange legen und ihr langsam durchs Haar streichen. »Es gibt uns noch.«
    Aber meine Frau leerte ihren Kaffeebecher und ging. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Meine Eltern sind auch da«, sagte sie gelassen. »Sie kommen heute aus Frankreich zurück und freuen sich, dich zu sehen.«
    Ich schloss die Augen. Erst sah ich nur schwarze Flecken, dann wieder die lange Reihe Müllsäcke am Straßenrand.
    »Und Fatima kommt um halb zehn«, sagte meine Frau. »Sie hat einen Schlüssel.«
    »Fatima?«
    Ich bekam keine Antwort – und als ich die Augen wieder öffnete, war die Tür zu.
     

    Die Müllsäcke stapelten sich immer noch am Straßenrand. Es waren die gleichen Müllsäcke, und auch wieder nicht; sie schienen größer und schwerer als sonst, und vom Müllauto war nichts zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis mir die fürchterliche Wahrheit bewusst wurde: Das Müllauto kam überhaupt nicht mehr! Es war schon da gewesen! Es war vorbeigefahren und hatte die Säcke übersehen, oder noch schlimmer: Die Säcke waren zu groß und zu schwer für ein normales Müllauto und würden auch nächste und übernächste Woche nicht abgeholt werden.
    Schniefend und nach Luft ringend fuhr ich hoch und stieß dabei mit dem Ellbogen das Wasserglas auf dem Nachttisch um; hinter den beschlagenen Fenstern schien die Sonne aus strahlend blauem Himmel. Langsam ließ ich mich wieder zurücksinken. Magensäure stieg mir in den Hals; mein Kissen war eiskalt und feucht, als hätte jemand den Kummer von Jahren hineingeweint.
    Wo ist das Pferd?, durchfuhr es mich. Wo ist das trabende Pferd geblieben?
    Ich schloss die Augen, aber der Traum blieb aus. Dafür hörte ich Stimmen wie aus weiter Ferne. Als ich die Augen öffnete, waren die Stimmen immer noch da; sie kamen von draußen – aus dem Garten, um genau zu sein.
    Ich stützte mich mit den Ellbogen auf die Fensterbank und rieb ein Loch in den Dunst auf der Scheibe.
    Frau de Bilde stand in ihren hellblauen Pantoffeln neben dem von Weinranken überwucherten Schuppen. Sie hatte eine braun geblümte Schürze um. Aus der halb geöffneten Tür des Schuppens ragte der in verschlissene Jeans gehüllte Hintern einer Frau; ich machte das Guckloch etwas größer und drehte das Ohr zum Fenster, doch es war kaum etwas von dem zu verstehen, was Frau de Bilde sagte. Eine Hand mit einer Harke wurde aus dem Schuppen gestreckt. Frau de Bilde schüttelte heftig den Kopf. Unten links erschien jetzt auch der gefleckte Hund; er wackelte erst zu seinem Frauchen, schnüffelte an ihrer Schürze und steckte dann die Schnauze in den Schuppen.
    Die Hand tauchte wieder auf, diesmal mit einem fröhlich in der Sonne baumelnden grünen Plastikeimer. Frau de Bilde rief etwas, das sich anhörte wie »Schufthasen … jetzt nicht«. Ein Besen wurde auf den Rasen geworfen, es folgten ein paar Plastikflaschen mit Putzmitteln. Und schließlich kam auch der Hintern zum Vorschein; ruckelnd, wie ein Lastwagen, dessen Fahrer keine gute Sicht in den Außenspiegeln hat. Der Hund brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit und beobachtete das Manöver mit schief gelegtem Kopf.
    Ich war Frau de Bildes Tochter nur zweimal begegnet, sie litt an Übergewicht, und auf ihrem Gesicht, das aussah, als hätte es jemand mit einer Luftpumpe aufgeblasen, schienen ganze Teile wie abgestorben, neben anderen, die nur aus roten Flecken und violetten Punkten bestanden, als wären die Adern durch zu hohen Druck gesprungen.
    Aus dieser gefleckten Landschaft schauten

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