Odessa Star: Roman (German Edition)
Bier, und während ich die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf mich zu lenken versuchte, sah ich die Toilettentür aufgehen; Biervoort war endlich fertig mit dem, was er zu tun gehabt hatte. Er nickte dem Mädchen hinter der Bar zu und ging zum Ausgang.
»Nicht gleich gucken«, sagte ich.
»Wo?« Max drehte sich halb um.
»Der Mann, der jetzt auf uns zukommt. Weißt du noch, wer das ist?«
Max kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Dein Vater?«
»Das ist Biervoort. Du weißt schon, der Nägelkauer, bei dem wir Französisch hatten. Er hatte so eine schmuddelige Frau mit Borstenhaar. Sie arbeitete in der Bibliothek.«
»Ach du lieber Himmel!«, sagte Max. »Die machten doch so säuische Sachen in ihrer Freizeit, Sachen, über die manlieber nicht zu lange nachdenkt.« Biervoort war auf der Höhe unseres Tisches stehen geblieben, weil er zwei Frauen mit Einkaufstaschen vorbeilassen wollte, die gerade hereinkamen.
»Herr Biervoort!«
Unser Französischlehrer machte eine Drehung, allerdings zu weit, sodass er nun etwas hilflos auf eine Stelle ein paar Tische von uns entfernt starrte.
»Herr Biervoort!«, rief Max wieder, und als Biervoort uns bemerkte, winkte er ihm.
Biervoort machte ein paar Schritte in unsere Richtung; hinter seinen Brillengläsern sahen seine feuchten Augen Max argwöhnisch an. Seine Hände, fiel mir auf, steckten in den Taschen seines Jacketts.
»Wir sind ehemalige Schüler von Ihnen«, sagte Max mit einem breiten Grinsen. »Das ist Fred. Den kennen Sie bestimmt noch. Fred Moorman.«
Biervoort beugte sich vor und starrte mich an. »Fred Moorman«, wiederholte er, als hoffte er, das laute Aussprechen meines Namens würde sein Gedächtnis aktivieren. Aber er schien mich nicht wiederzuerkennen. Sein Blick wanderte zu Max.
»Max«, sagte Max. »Max G.«
Als Biervoort den Nachnamen hörte, öffnete sich sein Mund ein wenig. Seine Zunge geriet in Bewegung, und man hörte ein kurzes, schmatzendes Geräusch. In einem Mundwinkel klebte noch etwas Senf.
»Ja, ja«, sagte er leise. »An dich erinnere ich mich noch.« Er schien weitergehen zu wollen, blieb aber stehen, sein Gesicht nahm einen strengen Ausdruck an, als stünde er kurz davor, einen Schüler wegen Ruhestörung aus der Klasse zu schicken. »Zu hoffen ist …« Er beendete den Satz nicht. Max hatte die Arme verschränkt und schien sich zu amüsieren. Biervoort rückte sein Jackett zurecht und blickte von Maxzu mir. »Ich hoffe, Ihnen beiden war es vergönnt, die Früchte des Unterrichts zu ernten für was auch immer Sie in Ihrem späteren Leben getan haben. Guten Tag.«
Schneller als man es bei einem Mann seines Alters für möglich gehalten hätte, war er an der Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen, trat er auf die Straße. Draußen straffte sich seine Gestalt, er schlug erst die Richtung ein, die ihn am Fenster vorbeigeführt hätte, hinter dem wir saßen, aber dann machte er auf dem Absatz kehrt.
»Was hat er gesagt?«, fragte Max. »Mein Französisch ist nicht mehr das, was es mal war.«
Ich holte tief Luft, nahm das Bierglas, merkte, dass es leer war, und stellte es wieder hin.
»Die Früchte«, sagte ich. »In dieser Bildersprache ist die Schule der Baum, dessen Früchte man erntet. Danach haben wir ein Leben geführt. Zum Glück hatten wir die Früchte noch. Für was auch immer. Guten Tag.«
»Ja«, sagte Max. »Oder wie die Franzosen so schön sagen: oui.« Er winkte der Kellnerin. »Ich habe auch Durst«, grinste er. »Guck mal auf die Uhr, ob ich es mir erlauben kann.«
Ich streckte die Hand nach der Packung Marlboro aus und zog sie zu mir heran. Ich fragte ihn gar nicht erst, weil es mir in diesem Moment besser schien, nichts zu fragen. Ich nahm mir eine Zigarette und griff nach Max’ Feuerzeug.
»Es ist höchste Zeit«, sagte ich und ließ die Flamme um die Zigarettenspitze spielen. Ich inhalierte tief und blies den Rauch in einer kräftigen Wolke Richtung Fenster.
Die Kellnerin stand an unserem Tisch.
»Zwei Bier«, sagte ich. »Groß.«
Max’ Hand glitt zur Zigarettenpackung.
»Was willst du von mir?«
2
1
Meistens weiß man schon mitten in der Nacht, was die Stunde geschlagen hat. Es fängt mit einem jener wirren Endlosträume an, in denen sich zu viel Hausmüll am Straßenrand stapelt oder ein weißes Pferd auf einer von Gott und der Welt verlassenen Straße trabt und trabt und trabt. Der Hausmüll muss, immer zwei Säcke auf einmal, hinten in den Müllwagen geworfen werden. Man
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