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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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einen tief versunkene Augen misstrauisch an, wie kleine Raubtiere in ihrem Bau, die nur herausschießen, wenn etwas Essbares in Sicht ist.
    »Schrümpfe ausstinken … genug Wanderkind«, hörte ich Frau de Bilde sagen.
    »Türkschwester«, antwortete die Tochter und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »Türkschwester ohne Ellmachten.«
    Wenn ich irgendetwas von dieser Unterhaltung aufschnappen wollte, musste ich nach unten gehen. In der Küche konnte man bei angelehnter Balkontür ein im Garten geführtes Gespräch mithören.
    Während ich, nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet, die Treppe hinunterwankte, versuchte ich, auf den Namen von Frau de Bildes Tochter zu kommen. Es war ein abscheulicher Name, einer, bei dem man unwillkürlich aus stellvertretender Verzweiflung aufstöhnt; ich steckte die Hand in meine verschwitzte Unterhose, nahm meinen Schwanz zwischen die Finger, tastete mich in das warme, feuchte Gebiet an den Leisten vor und roch danach an meinen Fingern. »Titia!«, sagte ich. »Nein … Tirtsa! Nein, das war es auch nicht …«
    Mit pochenden Schläfen erreichte ich das Spülbecken in der Küche und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann öffnete ich leise die Balkontür.
    »… Völlig zwecklos«, hörte ich Frau de Bilde sagen. »… und sogar bis tief in die Nacht … diesen verwöhnten Rotzbengel nicht genug … solche Sachen …«
    Ich spritzte mir noch mehr Wasser ins Gesicht.
    »… einfach drauf bestehen«, ertönte die Stimme der Tochter. »… Mietverweigerung … wirklich, hörst du … begossener Pudel … alle.«
    Katinka! Nein, verdammt! Titia! Ja, das war es; der erste Einfall ist fast immer der richtige. Titia … Wie der erste Sonnenstrahl nach einem lange anhaltenden Gewitter, so erschien ein wässriges Lächeln auf meinem Gesicht.
    Vor einigen Monaten hatte Titia bei uns geklingelt; obwohl es das zweite Mal war, dass ich sie sah, jagte mir ihr Anblick doch wieder einen ordentlichen Schreck ein. Beim ersten Mal hatte sie sich uns als Frau de Bildes Tochter vorgestellt, die ihr ab und zu einen Topf Suppe vorbeibringe. Suppe! Genau das roch ich wieder, als sie zum zweiten Mal mit ihrem speckigen Gesicht in unserer Wohnungstür stand und lautstark verlangte, ich solle endlich die seit Jahren versprochenen Reparaturen in der Wohnung ihrer Mutter machen lassen. »Das Badezimmer!«, rief sie. Seit unserem Einzug leckte Wasser durch die Ritzen an den Rändern unserer Badewanne nach unten und bildete braune Flecken an der Decke. »Und die Türen zum Garten und das Asbestdach des Schuppens!« Der Asbest gefährde die Gesundheit ihrer Mutter, da sie dort ihre Gartengeräte aufbewahre.
     
    Es fiel mir nicht allzu schwer, Interesse für Titia de Bildes Beschwerden aufzubringen; ich brauchte eigentlich nicht mal zu heucheln. Ich schaute ihr mit so viel Interesse ins Gesicht, dass ich sogar befürchtete, mein Blick würde ein Loch in ihre aufgedunsene, fleckige Haut brennen. Sie sprach das Wort Asbest aus, als handle es sich um radioaktiven Abfall oder eine Geschlechtskrankheit, die man sich durch direkten Kontakt des Mundes mit den intimeren Körperteilen zuzieht. Ganz kurz sah ich schwarze Metzgerschürzen vor mir und die Luftdruckpistolen, mit denen man Schweinen aus der Nähe in ihren ahnungslosen Kopf schießt, bevor man sie an die Haken hängt, an denen sie in das eigentliche Schlachthaus abtransportiert werden; im nächsten Moment versprach ich Titia de Bilde, ich würde mir morgen Vormittag, spätestens morgen Vormittag, das Badezimmer ihrer Mutter anschauen.
    »Und auch den Schuppen?«
    Schon die Frage verriet mir, dass sie mir Glauben schenkte – dass sie jedenfalls noch einen Rest Vertrauen zu mir hatte, trotz aller Beweise des Gegenteils, die sich in den vergangenen fünf Jahren angehäuft hatten.
    »Auch den Schuppen«, sagte ich leise, wobei ich den Drang unterdrückte, sie zu berühren – da ich nicht so recht wusste, wo (an der Schulter, der Wange oder ganz woanders?), verstrich die Gelegenheit ungenutzt –, aber wie ich sie so anschaute, musste ich an den Moment ihrer Geburt denken; an den Augenblick, in dem Titia de Bilde, durch die Nabelschnur noch mit der Plazenta der Mutter verbunden, blutverschmiert, aber mit regelmäßig klopfendem Herz, auf die Welt gekommen war. In einer fernen Vergangenheit musste es einmal Menschen gegeben haben, die sich über ihre Geburt gefreut hatten; an erster Stelle natürlich Frau de Bilde selbst, aber, wer weiß, vielleicht auch

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