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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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ein Herr de Bilde.
    Und genau an diesem Punkt brach die Fantasie jäh ab.Es kostete einige Überwindung sich vorzustellen, es müsse einmal einen Mann gegeben haben, der sich keuchend und schwitzend über Frau de Bilde beugte, während seine Erregung schon durch die Hose hindurch spürbar war, und der ihr liebe Worte zuflüsterte wie Schätzchen, Liebchen, mein Häschen und seinen Gürtel aufzurrte und den Hosenschlitz so heftig aufriss, dass mehrere Knöpfe zugleich wegsprangen, und wie er dann seinen pochenden, hart werdenden und von der Eichel bis zum Hodensack angespannten, blau geäderten Schwanz aus der in großer Eile abgestreiften Hose herauswurschtelte, um ihn mit dem Stöhnen eines verwundeten Tiers zärtlich in Frau de Bilde versinken zu lassen. Und wie sie ihn anschließend mit gurrenden Tönen ermutigte: Ja, mach schon Schätzchen, tiefer … tiefer … ein Kindchen, ein Kindchen … ich will ein Kind von dir … von dir … nur von dir …
    Das war viel verlangt; es erforderte eine Art Phantombild sowohl vom Vater als auch von der Mutter. Was Frau de Bilde betraf, so konnte man ihren ausladenden Geburtstagstortenkörper immerhin noch mithilfe der Computertechnik um dreißig Jahre zurückversetzen; indem man ein paarmal die Strg-Taste und die Kursiv-Taste drückte, konnte man ihren Körper in den des jungen Mädchens zurückverwandeln, dessenthalben ein Mann einmal seine Hose geöffnet hatte. Herr de Bilde blieb unterdessen ziemlich anonym, ein Teil seines Gesichts möglicherweise sogar mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht; bei Titias Zeugung kann er nicht mehr als ein Statist gewesen sein. Er lächelt entschuldigend: Er habe an dem Abend einen über den Durst getrunken, und keinesfalls sei er bereit, das Kind als sein eigenes anzuerkennen. Frau de Bilde zieht sich nach Watergraafsmeer zurück und widmet sich der Erziehung ihrer Tochter. Alles ist da noch normal: So kurz nach der Geburt sind alle Säuglinge hässlich; kurz nach der Geburt ist immer noch Hoffnung. Über der Wiege wird eine Rassel aufgehängt. DieJahre verstreichen, doch die Hässlichkeit bleibt, wird sogar schlimmer. Es ist wie mit dem Älterwerden: Wenn man jeden Tag in den Spiegel schaut, fällt es einem weniger auf. Ein Gesicht ist hässlich, es bleibt hässlich, es ist abstoßend, aber man gewöhnt sich daran. Wie man sich an ein amputiertes Bein gewöhnt oder an eine Wunde, die nicht heilt, sondern nur zu bluten aufgehört hat.
    »Ich schaue morgen Vormittag vorbei«, sagte ich. »Morgen schaue ich mir die Badezimmerdecke an und auch das Asbestdach des Schuppens.« Ich versuchte, das Wort Asbest so auszusprechen, dass es weder nach Oralsex noch nach radioaktivem Müll klang, sondern nach etwas, das sich im Handumdrehen beseitigen lässt, wie eine gutartige Schwellung oder ein eingerissener Nagel.
    »Darüber wird sich meine Mutter freuen.« Titia de Bilde sah mich aus ihren traurigen kleinen Augen erwartungsvoll an. Wie war jemand um Himmels willen darauf gekommen, dieses Geschöpf Titia zu nennen?
    »Titia …«
    »Ja?«
    Ich sah sie an. »Was, ja?«
    »Sie sagten Titia.«
    Erschrocken merkte ich, dass ich ihren Namen nicht nur in Gedanken ausgesprochen hatte. Mir wurde heiß, und ich wich vor dem Licht aus dem Treppenhaus zurück.
    »Ich bin froh, dass du mir all das mitgeteilt hast, Titia«, sagte ich schnell. »Gemeinsam finden wir bestimmt eine Lösung.« Grußlos ließ ich die Tür ins Schloss fallen.
    Und danach? Danach gar nichts. Weder am nächsten Tag noch am übernächsten Tag noch später in der Woche bin ich nach unten gegangen. Stattdessen habe ich drei Tage nach dem Gespräch mit Titia de Bilde die beiden Wasserhähne der Badewanne aufgedreht und mich mit der Zeitung und einer Tasse Kaffee in die Küche gesetzt. So realitätsnahwie möglich hob ich den Kopf, als ich das Wasser über die Fliesen laufen hörte und weiter in den Flur hinaus.
    »Was hör ich denn da?«, sagte ich und nahm noch einen Schluck Kaffee.
    Erst als das Wasser an der Schwelle zur Küche stand, sprang ich auf. »Oh Gott!«, rief ich laut. »Nein, so was!«
    Durch das zentimeterhohe Wasser watend, erreichte ich das Bad und drehte die Hähne zu. »Oh Gott!«, rief ich nochmals. »Dass mir das immer passieren muss!«
    Als ich mich daranmachte, das Wasser mit einem Aufnehmer ins Bad zurückzuwischen, hörte ich unten Geräusche; eine Tür wurde ins Schloss geworfen, dann war gedämpftes Jammern zu vernehmen. Schritte bewegten sich

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