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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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blattlosen Bäumen die Müllsäcke, sie würden frühestens Montagmorgen abgeholt.
    Mein Traum war also nicht nur ein Fiebertraum, sondern auch ein prophetischer Traum gewesen, dachte ich. An einem der Müllsäcke lehnte ein zerlegtes Kinderbett, kein altes oder abgenutztes, sondern ein ziemlich neues Exemplar, wenn auch von billiger und geschmackloser Schlichtheit, mit weißen Gitterstäben und Beinen und einem blauen geflügelten Elefanten am Kopfteil.
    »Geht es dir schon wieder etwas besser?«, fragte Christine.

    »Wieso?«
    »Weil du so vor dich hin schmunzelst.«
    Als wir von zu Hause losgefahren waren, hatte sie sich eine Zigarette angezündet, und als ich sie jetzt ansah, hatte sie schon wieder eine zwischen den Lippen. Oder war es dieselbe? Hatte die Fahrt von der einen Seite der Stadt zur anderen nicht mehr Zeit gekostet als das Rauchen einer Zigarette?
    Christine legte mir eine kühle Hand auf die Stirn. »Du bist noch ganz schön heiß«, sagte sie. »Hast du das Aspirin genommen?«
    »Ja«, sagte ich – und auch zwei Wassergläser Jack Daniel’s, hätte ich beinahe hinzugefügt.
    Christine beugte sich vor und legte mir die Hand in den Nacken; im Rückspiegel sah ich, wie David seine Kopfhörer abnahm. Als wir losfuhren, hatte ich mich gefragt, ob er nicht allmählich zu alt wurde für diese obligatorischen Familienbesuche – und jetzt war ich mir sicher.
    »Ich finde es lieb von dir, dass du doch mitgekommen bist«, sagte Christine; ich fühlte ihre Finger zwischen Hemdkragen und Haut. »Für mich ist es auch nicht immer …«, sagte sie, während sie ihre Stirn an meine lehnte, »nun ja, du weißt, wie Jan ist … Er ist mein Bruder, aber er ist auch …«
    »Ein unerhörtes Arschloch.«
    Ich wartete ihre unkalkulierbare Reaktion mit geschlossenen Augen ab. Sie hörte mit dem Kraulen auf. David rülpste erst laut und seufzte dann tief.
    »Du sagst es immer etwas weniger subtil«, flüsterte meine Frau nah an meinem Ohr, »aber wir meinen im Grunde dasselbe.«
    Ich öffnete die Augen; sie gab mir einen flüchtigen Kuss. Eine Hundertstelsekunde lang hörte ich Frau de Bildes Stimme in meinem von Nurofen und Jack Daniel’s vernebelten Kopf. Und dann dreht sie sich zu ihm um und fängt an, ihn zu küssen. Im nächsten Moment saßen wir wieder ganz normal in einem geparkten Auto in einer zu dunklen Straße, brachte meine Frau ihr Haar in Ordnung und kontrollierte ihren Lippenstift im Rückspiegel.
    »Gehen wir irgendwann mal los?«, fragte David, der ausgestiegen war.
     
    Jan Vriend & Yvonne Claessens stand auf dem Namensschild neben der Klingel und darunter mit rotem Filzstift auf einem Stück Pappe Wilco + Tamar. Als Jan und Yvonne noch keine Kinder hatten und auf dem Hausboot wohnten, hatten sie die Namen ihrer Katzen auf den Briefkasten geklebt. Titus und Pupsi – es waren in der Tat unvergessliche Namen; wenn ich mich recht erinnere, kamen sie auch in der Nachricht auf dem Anrufbeantworter vor … Oh je! Wir sind nicht zu Hause … so fing sie an. Bei dem Oh je …! zuckte ich jedes Mal zusammen. Hinterlassen Sie eine Nachricht für Jan oder Yvonne oder für Pupsi oder Titus … Im Hintergrund war eine undeutliche Dritte-Welt-Musik zu hören, die auszuschalten sie offenbar zu faul gewesen waren.
    Yvonnes Stimme klang nach warmer Milch, auf dem AB mehr als in Wirklichkeit. Warme Milch in einem emaillierten Stieltopf. Titus hieß nicht nur eine der beiden Katzen, sondern auch ein kahler Schauspieler, mit dem Yvonne kurze Zeit ein Verhältnis hatte, ohne dass mein Schwager es wusste. Einige Male hatte ich den kahlen Schauspieler auf dem indischen oder afghanischen gebatikten Sitzkissen mitten im Hausboot sitzen sehen und Ibsen oder Shakespeare deklamieren hören; er hatte eine leicht hallende Stimme und schnupperte immer erst am Rotwein, bevor er einen Schluck nahm. »Das Theater ist mein Leben« war sein Lieblingssatz. Eines Abends war es ziemlich spät geworden, alle waren nach Hause oder ins Bett gegangen; nur der Schauspieler hing noch eine Weile herum. Es hatte geschneit, undnachdem Christine und ich den Schnee von den Sätteln unserer Fahrräder gefegt hatten, blickten wir noch einmal zum Boot zurück, dessen Dach mit einer dünnen weißen Schicht bedeckt war; aus dem kleinen Schornstein kringelte sich der Rauch in die frostkalte Luft, und der Geruch brennender Holzscheite wehte zu uns herüber. Im Schein der Straßenlaternen sah das Ganze aus wie ein Bild von Breitner.
    »Mein Bruder ist

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