Odessa Star: Roman (German Edition)
nicht nur ein Döskopp und ein Nichtsnutz«, sagte Christine, »er ist obendrein blind.«
Als Wilco geboren wurde, beugten wir uns über die Wiege und sahen einander an – aber es war natürlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen; ich meine, fast alle Babys sind kurz nach der Geburt kahl. Diesmal brannte kein Holz im Kanonenofen, es war Sommer, in der Gracht schwammen Enten, und durch die kleinen offenen Fenster drang ein unappetitlicher Gullygestank herein. Wilcos Gesicht war mit Mückenstichen übersät, und als Christine darüber eine Bemerkung machte, zuckte Yvonne mit den Achseln: »Das macht ihn stark.«
Noch im selben Sommer kam der kahle Schauspieler nach einer Aufführung in der Provinz auf dem Heimweg von der Straße ab; im Wrack seines Citroën DS hatte es Eingeweihten zufolge stark nach Wein gerochen. Auf der Beerdigung trug Yvonne eine Sonnenbrille und einen breitrandigen schwarzen Hut, aber sie weinte nicht; und in der Theaterkneipe, wo sich alle hinterher betranken, hing noch eine Zeit lang sein Foto, bis es eines Tages verschwunden war.
Oh je! Wir sind nicht zu Hause … das hätte ich am liebsten aus der Sprechanlage gehört, als Christine klingelte. David stand etwas abseits, die Hände in den Hosentaschen, die Kopfhörer seines Walkmans lagen auf dem Kragen seiner Jacke. Wieder hatte ich das starke Gefühl, dass er zu alt war, seine Eltern zu einem Essen bei Onkel und Tante zu begleiten; ich dachte an seine magere Freundin mit der Gitarre, es war mir schleierhaft, warum er nicht einfach gesagt hatte, er habe Wichtigeres zu tun.
»Wer ist da?«
Warme Milch ergoss sich auf die dunkle Straße.
»Möchtest du ein Glas?«
Mein Schwager hielt mir die beiden schon geöffneten Bierflaschen hin. Ich schüttelte den Kopf. Wie oft hatte mich mein Schwager im Lauf der Jahre nicht gefragt, ob ich ein Glas wolle, und wie oft hatte ich nicht den Kopf geschüttelt! Wenn man all die Male zusammenzählte, wäre einem höchstwahrscheinlich ein Blick auf die Ewigkeit vergönnt.
Als er sich neben mich auf die Couch sinken ließ, fiel mein Blick auf seine braunen Socken in den blauen Badelatschen. Ich stöhnte, nicht hörbar, aber innerlich. Meist stellte sich die Sehnsucht nach meinen eigenen vier Wänden erst später ein, bei der Vorspeise oder in den leeren Minuten danach, wenn meine Schwägerin sich die Topfhandschuhe überstreifte. Aber jetzt sehnte ich mich noch nicht einmal nach meinen eigenen vier Wänden, sondern einfach nur nach einem anderen Ort, gleichgültig wo. Ich setzte die Flasche an den Mund und leerte sie gluckernd in einem langen Zug.
Im Fernsehen hatten gerade die Kindernachrichten begonnen. Ein schwarzes Mädchen musste in eine Pampe beißen und bekam dann eine Zahnspange. Mein Schwager war voll bei der Sache, wie ich aus den Augenwinkeln feststellte.
»Wer waren die beiden Männer?«, fragte er, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
»Welche Männer?«
»Die auf deinem Geburtstag. Der lange kahle. Und der andere, der mit dem glatten Haar. Ich sagte zu Yvonne: ›Die hat Fred bestimmt auf der Freefight Gala aufgegabelt.‹ Haha.«
Langsam stellte ich die leere Flasche auf den Couchtischund nahm mir eine Handvoll Erdnüsse. Im Fernsehen war gerade ein Elefant zur Welt gekommen; er wackelte auf den Hinterbeinen durchs Stroh und tastete mit dem Rüssel den Bauch der Mutter ab. Ich hatte eigentlich keine Lust zu antworten.
»Nee, im Ernst«, sagte mein Schwager, »Freunde von dir?«
»Max«, sagte ich und holte tief Luft. Mein Schwager sah mich an. »Der kleinere. Das war Max. Den kenne ich schon aus der Schulzeit. Wir sind in dieselbe Klasse gegangen. Dann haben wir uns aus den Augen verloren, aber vor Kurzem ist er mir im Kino zufällig wieder über den Weg gelaufen.«
Ich legte eine Pause ein. Der Gesichtsausdruck meines Schwagers verriet, dass er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
»In der Schule haben wir alle geglaubt, er werde es mal weit bringen. Und das ist in jeder Hinsicht eingetroffen. Ich meine, alle hatten ein bisschen Angst vor ihm. Nicht nur die Schüler, auch die Lehrer.«
Im Fernsehen redete gerade ein Lehrer vor einer Schultafel, auf der mit Kreide ein Gedicht geschrieben stand.
»Heute schreckt er vor einem Mord mehr oder weniger nicht zurück.« Ich nahm mir noch eine Handvoll Nüsse. »Das hält sein Imperium in Schwung. In und um Amsterdam läuft ohne die Zustimmung von Max G. und seiner Organisation gar nichts. Vielleicht hast
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