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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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die anderen schließlich auf der überdachten Terrasse neben einer Pommesbude fanden. Dampf stieg aus unseren Kleidern auf; um Tamars Turnschuhe bildete sich eine Pfütze.
    »Wir waren auf der Insel mitten im Teich«, sagte ich. »Und als es anfing zu regnen, konnten wir nicht mehr zurück.«
    Tamar starrte ihre Mutter an. »Wir konnten nicht mehr zurück«, sagte sie.
    Christine und David ließen sich ihre Pommes mit Mayonnaise schmecken, Wilco saß allein an einem Tisch und brachte mit einem Strohhalm die Schokolade in der Flasche zum Blubbern. Mein Schwager schob sich eine Krokette in den Mund. »Ich war auch auf der Insel«, sagte er mit einem übertriebenen Augenzwinkern, »aber ich habe euch nirgends gesehen.«
    Ich erinnere mich noch gut, wie ich unter meinen noch dampfenden Kleidern eine Hitze aufsteigen fühlte, die in wenigen Sekunden meinen Kopf für alle sichtbar zum Glühen bringen würde.
    »Ich hole mir mal ein Bier«, sagte ich rasch.
    »Ich komme mit«, sagte Tamar und packte meine Hand.
    Und jetzt am Tisch, während wir die bleichen Fischreste aus der Alufolie kratzten, gab ich wieder vor allem auf sie acht. Sie spießte ein Stück mit der Gabel auf und kaute selbstvergessen und verträumt vor sich hin. Das Gespräch drehte sich gerade um das neue Theaterstück irgendeines norwegischen (oder finnischen) Autors, in dem Yvonne eine »tragende Rolle«, wie sie es selber nannte, übernehmen sollte. »Das Stück wird hier uraufgeführt und nicht in Norwegen«, sagte sie.
    Wegen ihrer Karriere als drittklassige Schauspielerinhatte Yvonne fast nie Zeit, ihre Kinder ins Bett zu bringen und ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Die Aufgabe übernahm mein Schwager, aber ein Vergnügen konnte das für Wilco und Tamar nicht sein; mir jedenfalls gelang es nie, ihn mir vorzustellen, wie er mit seinem leeren Gesicht auf der Bettkante sitzend aus einem Kinderbuch vorlas.
    Man konnte sich auch fragen, ob Yvonnes Schauspieltalent ihre ständige Abwesenheit von zu Hause rechtfertigte. Mein Schwager machte, wie gesagt, überhaupt nichts. Manchmal »meditierte« er oder war wochenlang damit beschäftigt, ein Puzzle aus hunderttausend oder mehr Teilen zusammenzusetzen. Ein gutes Beispiel für die Kinder war er meines Erachtens nicht.
    »In Norwegen«, sagte Wilco.
    Alle schienen gleichzeitig mit dem Kauen aufzuhören.
    »In Norwegen«, wiederholte er, etwas lauter diesmal, aber ohne von seinem Teller aufzublicken.
    Yvonne machte ein nachdenkliches Gesicht, als könnte sie mit sich selbst nicht einig werden, auf welche der Krankheiten ihres Sohnes sie dieses Verhalten zurückführen sollte.
    »In Norwegen«, sagte Wilco. »In Norwegen. In Norwegen. In Nor wegen. In Nor wegen. In Nor wegen. In Nor wegen!«
    Christine warf mir einen Blick zu, aber ich ignorierte sie. Stattdessen achtete ich genau auf die anderen. David stocherte in der Alufolie herum; mein Schwager tupfte sich mit seiner Serviette die Mundwinkel ab und schien damit nicht mehr aufhören zu wollen; Tamar legte die Gabel hin, sah mich an und zwinkerte mir hinter ihren Brillengläsern zu.
    »Du darfst ruhig aufstehen, wenn du noch ein bisschen am Computer spielen willst«, sagte Yvonne und legte die Hand auf die Schulter ihres Sohnes.
    Er drehte sich um, holte aus und versetzte ihr, ohne wirklich zu zielen, mit der Faust einen Schlag auf die Nase.
     
    Yvonne schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht; es dauerte vielleicht noch ein paar Sekunden, aber dann strömte das Blut in breiten, roten Streifen über ihren Mund und weiter nach unten über ihr Kinn bis an den Hals.
    Wilco sprang auf und machte sich aus dem Staub; Christine griff über den Tisch nach Yvonnes Hand. Mein Schwager legte die Serviette hin; für einen Moment glaubte ich, er würde hinter seinem Sohn herlaufen und ihm im Flur die Tracht Prügel verabreichen, die er verdiente, aber er rührte sich nicht vom Fleck, gab nur einen tiefen und müden Seufzer von sich.
    »So, das hätten wir auch hinter uns«, sagte er. »Möchte jemand noch einen Nachtisch?«
     
    Viel später, als ich es mir längst mit einem Glas Calvados auf dem Sofa bequem gemacht hatte, trafen meine Schwiegereltern ein. Nur mit halbem Ohr und leise stöhnend registrierte ich die ausführliche Begrüßung im Flur; in den letzten zehn Minuten hatte ich mich durch alle Kanäle gezappt und war bei einer Sendung über Kinderbauernhöfe hängen geblieben.
    »Lässt du dich wieder volllaufen?«, ertönte die Stimme meines

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