Odessa Star: Roman (German Edition)
auf dem Balkon. Ich legte die Hände auf die Brüstung, wodurch ich das Gefühl bekam, ich stünde auf einem Podest und müsstegleich eine wichtige Rede halten. Ich holte tief Luft und wartete, bis der Hund zu Ende gekackt hatte.
»Wuff!«, rief ich laut.
Hund und Frauchen hoben gleichzeitig den Kopf. Der Hund spitzte die Ohren und hielt den Kopf schief, wie Hunde es tun, wenn man sie ruft, während Frau de Bildes Blick vor allem Entsetzen ausdrückte, als sei ich ihr durch das Aussprechen des Hundenamens zu nahe getreten. Wenn ich sie irgendwo berührt hätte, an einer Stelle, wo sie seit hundert Jahren niemand mehr berührt hatte, hätte sie nicht entsetzter dreinschauen können, dachte ich und gruselte mich ein wenig. Jedenfalls schenkten mir beide ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Du würdest sicher gern öfter mal raus, was, Wuff? Auf eine richtige Straße mit Bäumen und Müllsäcken und anderen Hunden. Aber das Frauchen kann das nicht mehr so gut, nicht? Und wenn, dann geht sie immer so langsam, und das macht keinen Spaß. Und deshalb lässt sie dich im Garten kacken, so lange, bis es nirgends mehr eine Stelle gibt, an der du deine eigene Kacke nicht riechst.«
Auch Frau de Bilde hielt jetzt den Kopf schief; wenn ich mich nicht irrte, hielt sie mir ihr »gutes« Ohr hin. Genau genommen hatte sie hier nichts mehr verloren, ich redete ja nicht mit ihr, sondern mit ihrem Hund; andererseits konnte es auch nicht schaden.
»Menschen schaffen sich einen Hund an. Oder ein Kind. Und immer legen sie es sich so zurecht, als würden sie alles nur ›um des Tieres‹ oder ›um des Kindes willen‹ tun. Das Tier ist unschuldig, das Kind hilflos. Beide sind jedenfalls abhängig, das ist das Schlüsselwort. Menschen lieben das, was von ihnen abhängig ist. Aber umgekehrt haben sie wenig zu bieten. Sie werden alt und krank, und man muss furchtbar laut schreien, damit sie einen verstehen, oder sie vergessen alles, was man ihnen sagt. Als Hund muss man hinter einerGehhilfe herzockeln und in den Garten kacken, und man kann nur zu Gott beten, dass noch jemand zum Füttern da ist, wenn das Frauchen eines Morgens tot im Sessel sitzt.«
Der Hund hörte nicht mehr zu. Er schnupperte am Boden und schlappte Richtung Küchentür. Auch Frau de Bilde machte Anstalten, mich auf dem Balkon stehen zu lassen.
»Frau de Bilde«, rief ich.
Sie hob den Kopf nicht, blieb aber stehen; aus ihrer Schürzentasche fischte sie ein zerknülltes Papiertaschentuch. Ich erwartete, dass sie sich damit die Stirn abwischen würde, aber sie brachte es an ihre Augen.
»Frau de Bilde, vor einiger Zeit habe ich Ihnen fünftausend Gulden angeboten, wenn Sie sich eine neue Wohnung suchen. Ich habe Ihnen sogar angeboten, die Umzugskosten zu übernehmen. Heute lege ich noch mal zweitausendfünfhundert Gulden drauf. Das ist dann aber mein letztes Angebot. Siebentausendfünfhundert Gulden sind eine Menge Geld, wenn man bedenkt, dass Sie schon über Rohrbrüche jammern, wenn ich eine Tasse Tee fallen lasse. So wie heute.«
In der Stille, die eintrat, hörte ich sie noch mühsamer atmen als sonst. Es wäre ein besseres Ende für ein Hörspiel, wenn ich jetzt als Erster hineinginge und Frau de Bilde mit ihren Gedanken allein ließe und nicht umgekehrt. Aber mich überkam plötzlich eine bleierne Müdigkeit.
Und so stand ich noch eine Zeit lang auf dem Balkon; zweifellos begann es in dem Moment leise zu regnen. Als ich wieder in den Garten hinuntersah, war Frau de Bilde verschwunden.
»… nach dem Punktesystem«, hörte ich Titia de Bilde sagen, als ich hinter der angelehnten Balkontür in die Hocke ging. »Nach dem Punktesystem bezahlst du mindestens fünfzig Gulden zu viel. Erst recht, wenn man an die überfälligen Reparaturen denkt.«
In meinem Kopf hämmerte es. Die Treppe hinunterzugehen hatte mir das Äußerste abverlangt. Von der Balkontür aus konnte ich die Flasche Jack Daniel’s auf dem Brett gegenüber der Spüle sehen. Und in der Schublade neben dem Abwaschbecken lag eine Schachtel Nurofen. Zwei Tabletten von 200 mg und ein halbes Wasserglas Jack Daniel’s würden die Müllsäcke und das trabende Pferd ein paar Stunden lang auf Abstand halten. Dabei war mir inzwischen ganz schleierhaft, weshalb ich mir in einer äußerst unkomfortablen Haltung ein Gespräch über das Punktesystem anhörte. Nach der Überschwemmung vor ein paar Monaten hatte ich es eine Zeit lang ruhig angehen lassen; nicht weil ich Ruhe brauchte, sondern damit sich Frau de
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