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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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du mal was in der Zeitung darüber gelesen. Die Bombe unter dem Auto des Hotelbesitzers letztes Jahr auf dem Parkplatz. Und das Bordell, das von der gegenüberliegenden Seite der Gracht mit einem Raketenwerfer beschossen wurde. Es war das erste Mal, dass in den Niederlanden so ein Dings zum Einsatz kam. Aber niemand weiß wirklich, ob Max etwas damit zu tun hatte. Ich auch nicht. Über solche Dinge reden wir nicht. Er wurde oft verdächtigt, aber beweisen konnte man ihm nie etwas.«

    In der Tür erschien meine Schwägerin mit einem Tablett, hinter ihr meine Frau, in jeder Hand ein Glas Weißwein.
    »Das Essen ist fertig!«, rief Yvonne mit ihrer lauten Warme-Milch-Stimme. »Kinder, erst die Hände waschen.«
     
    Während der Vorspeise – fahle Garnelen in einer rosa Soße – wurde Max nicht mehr erwähnt. Und auch nicht beim Hauptgericht, das diesmal nicht aus dem Ofen kam, sondern in Alufolie eingewickelt war und nach Fisch schmeckte.
    Meine Schwiegereltern, unterwegs von ihrem Sommerhaus in der Dordogne, hatten aus dem Auto angerufen, sie steckten bei Brüssel im Stau, wir sollten nicht auf sie warten; ich war mir nicht sicher, was überwog: die Freude über ihre Abwesenheit beim Essen oder die Sorge, dass sie später noch eintrudeln würden.
    Weil mir der Schädel wieder dröhnte, drückte ich zwei Nurofen-Tabletten aus der Blisterpackung und spülte sie, als niemand auf mich achtete, mit einem Glas eiskalten Weißwein hinunter. Yvonne erzählte gerade etwas von Wilcos neuer Schule, wo er endlich die Aufmerksamkeit bekomme, die er bei seiner Intelligenz verdiene. Sie hatten ihn, als er gerade mal fünf war, in einem auf »hochbegabte« Kinder spezialisierten psychologischen Institut testen lassen, und das Ergebnis hatte natürlich den Erwartungen entsprochen.
    Jedes Mal, wenn Jan und Yvonne »hochbegabt« sagten, senkten sie bescheiden die Köpfe, denn ein Kind konnte ja wohl kaum »hochbegabt« sein, wenn nicht auch beide Eltern mit überdurchschnittlicher Intelligenz gesegnet waren. Oder wer weiß, vielleicht waren sie ja selber auch »hochbegabt«. Verkompliziert wurde die Sache allerdings dadurch, dass Wilco nicht nur an »hoher Begabung«, sondern auch noch an ADHS und Legasthenie litt. Seine Eltern ließen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, wie schwer siees mit ihrem achtjährigen Sohn hatten. Wilco selbst schien seine Außergewöhnlichkeit nicht sonderlich zu stören. Er war ein in sich gekehrter Junge, der selten an den Gesprächen der Erwachsenen teilnahm. Sein Leben spielte sich hauptsächlich im Kopf ab; manchmal war er so in Gedanken versunken, dass sich seine Lippen lautlos bewegten. Wenn Yvonne oder Jan ihn etwas fragten, gab er Antworten wie »Das wusste ich doch schon längst« oder »Das sagst du mir schon zum dritten Mal, Papa« – was seinen Eltern ein mildes Lächeln entlockte.
    Ihre sechsjährige Tochter Tamar war total anders; sie war ein schüchternes Mädchen mit einem lieben, hübschen Gesicht. Wegen eines »trägen Auges« trug sie eine Brille, was ihre Anmut aber nicht beeinträchtigte. Manchmal starrte sie einen mit ihren vergrößerten Augen minutenlang an, verlegen und kokett zugleich. Auf der Straße griff sie mitunter plötzlich nach meiner Hand und drückte sie. Ich erinnere mich, wie ich einmal an einem Nachmittag während eines Familienausflugs mit ihr etwas zu trinken holen ging und wir dann die anderen nicht mehr finden konnten; nach einer gewissen Zeit hatten wir sogar aufgehört zu suchen. Wir fuhren mit dem Riesenrad, hüpften auf Springkissen und fuhren Skooter. Schließlich ruderten wir in einem tonnenförmigen Boot auf einen Teich voller Schwäne, Enten und anderer Wasservögel hinaus; als wir in der Mitte waren, fing es an zu regnen, erst nur ein paar Tropfen, aber innerhalb kürzester Zeit goss es in Strömen; die Ufer waren nicht mehr zu sehen, wir waren die Einzigen weit und breit. Anfangs verfluchte ich alle Vergnügungsparks im Allgemeinen und die mit Teichen und tonnenförmigen Booten im Speziellen, aber das ließ ich sein, als ich Tamars Gesicht sah. Zwischen ihren nassen Haarsträhnen glühten ihre Wangen rot, und hinter den beschlagenen Brillengläsern lachten mich ihre Augen an. »Schön«, sagte sie und strich sich die Haareaus der Stirn. Sie stellte sich hin, breitete die Arme aus und hob das Gesicht zum Himmel, aus dem der Regen auf uns herabprasselte. »Das ist schön«, wiederholte sie.
    »Wo wart ihr denn so lange?«, rief ihre Mutter, als wir

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